Die DDR im Schmalfilm Bild

Visuelle Spuren des Westens auf DDR-Schmalfilmen

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Visuelle Spuren des Westens auf DDR-Schmalfilmen

von Stefanie Eisenhuth

17. Juli 2022

Die deutsche Teilung riss unzählige Familien und Freundschaften auseinander, dennoch blieb der Westen auf vielfältige Weise im Osten präsent – abstrakt via Westfernsehen und -radio, aber auch individuell erfahrbar über Westpakete, Westprodukte oder Westbesuche. Damit blieb „der Westen“ einerseits ein erträumter Sehnsuchtsort, andererseits begegnete man ihm häufig im DDR-Alltag. Können die Filme der Open Memory Box dabei helfen, Spuren des Westens im Osten zu entdecken und zu entschlüsseln?

Das Wort „Westbesuch“ weckt bei vielen Menschen alte Erinnerungen und entlockt ihnen zahlreiche Anekdoten aus den Jahrzehnten der deutschen Teilung. Die Autorin Jutta Voigt denkt dabei „an Willkommen und Abschied, Umarmung und Entfremdung, an Apfelsinenduft und Bubblegum“. Sie erinnert sich an „Zeiten der Sehnsucht“, geprägt von „ratternden Interzonenzügen“ voller Rentnerinnen und Rentnern aus der DDR, von heimlichen Treffen zwischen Ost und West an der Transit-Autobahn oder „in den Cafés von Prag und Budapest“.[1] Unzählige Familien, Beziehungen und Freundschaften riss die Teilung einst auseinander, dennoch blieb der Westen auf vielfältige Weise im Osten präsent – abstrakt via Westfernsehen und -radio, aber auch individuell erfahrbar über Westpakete oder Westbesuche. Viele Menschen in der DDR träumten von einer Westreise, einem Westauto oder auch nur einer Westjeans. Alexei Yurchak hat für die Sowjetunion die enorme Bedeutung des „Imaginary West“ betont, ein Ort „der gleichzeitig bekannt und unerreichbar, greifbar und abstrakt, alltäglich und exotisch war“.[2] Dies trifft auch auf die DDR zu: Einerseits blieb „der Westen“ ein erträumter Sehnsuchtsort, der zwar real existierte, allerdings nie so, wie man ihn sich viele Male in Gedanken ausgemalt hatte, andererseits begegnete man dem Westen häufig im DDR-Alltag.

Auch in den Filmen der Open Memory Box müssten sich demnach vielfältige Spuren des Westens entdecken lassen, denn die DDR hat sich nie vollständig abgeschottet, auch wenn die Zahl der Grenzüberquerungen infolge des Mauerbaus erst einmal drastisch sank. Doch in den 1970/80er-Jahren wurde die „Überschreitung der innerdeutschen Grenze“ zu einer „das Leben prägenden Erfahrung“ [3] der westdeutschen „Generation Marienborn“[4], so der Historiker Karl Schlögel. Zwischen dem Herbst 1987 und dem Herbst 1988 verzeichnete das Ministerium für Staatssicherheit fast 4,5 Millionen Einreisen aus der Bundesrepublik und West-Berlin sowie knapp 1,5 Millionen aus anderen nichtsozialistischen Staaten.[5] Doch auch in die andere Richtung fuhren nicht wenige Menschen: Im gleichen Zeitraum unternahmen DDR-Bürger:innen 2,8 Millionen Fahrten in die Bundesrepublik, vier Millionen nach West-Berlin und weitere 240.000 in andere nichtsozialistische Staaten. Übertroffen wurden diese Zahlen nur von Fahrten in die ÇSSR (sieben Millionen); Polen und Ungarn blieben als Reiseziele deutlich dahinter zurück mit jeweils unter einer Million Fahrten.[6] Den weitaus größten Anteil an diesen Westreisen hatten die sogenannten „Rentnerreisen“.[7] Die Geschichte all jener rüstig-mobilen Großväter und ‑mütter, die für den Rest der Familie Westwaren in die DDR transportierten (und nicht selten schmuggelten), verdient ein eigenes Buch. Doch nicht nur der Westbesuch und die Westreisenden, sondern im Schnitt auch 25 Millionen Pakete pro Jahr sorgten dafür, dass Westprodukte die innerdeutsche Grenze überquerten.[8]

Ich tippe also zunächst „West“ als Suchbegriff auf der Homepage der Open Memory Box ein und lasse mich überraschen. Die Website zeigt mir als Ergebnis ein buntes Thumbnail-Mosaik: 80 Filmsequenzen in 37 verschiedenen Boxen zu den Schlagworten Westbesuch, Westpaket, Westreise, Westauto, Westdeutschland, BRD, West-Berlin, Westfernsehen, Westprodukte.[9] Das bedeutet, dass ein Viertel jener 149 Familien, die ihre Filme zur Verfügung gestellt haben, mindestens eine Rolle abgegeben hat, die in irgendeiner Form Spuren des Westens im DDR-Alltag zeigt. Hätte man einen ähnlichen Aufruf lanciert für Filme aus der alten Bundesrepublik, wäre die DDR sicherlich nicht in vergleichbarem Maße vertreten. In Anbetracht der großen Bedeutung, die „dem Westen“ einst im Osten beigemessen wurde, scheint mir das Ergebnis jedoch fast ein wenig dünn, enthält die Datenbank doch insgesamt über 2.000 Filme. Nur in wenigen Boxen tauchen mehrere Filmsequenzen zu verschiedenen West-Schlagworten auf.

Lassen wir uns auf einen Versuch ein und suchen nach visuellen Spuren des Westens in der Open Memory Box.[10] Nur wenige der kleinen Vorschau-Bilder im Suchergebnis offenbaren sofort, meist in Form von Markenprodukten oder Fahrzeugen, warum ihnen ein Schlagwort mit der Vorsilbe „West“ zugewiesen wurde. Neugierig sehe ich mir den ersten Film an. Zunächst fällt auf, dass sämtliche Informationen fehlen, die eine Kontextualisierung ermöglichen würden – wir erfahren nicht, wer die Aufnahmen wann und wo gemacht hat und wer im Bild zu sehen ist.[11] Stattdessen müssen wir die Bilder selbst lesen, Spuren folgen und „Augenarbeit“[12] betreiben. Dafür müssen Betrachter:innen allerdings auf Wissen über den DDR-Alltag zurückgreifen können: „Freilich sieht nur, wer etwas weiß. Wer nichts weiß, sieht auch nichts.“[13] Hier sind der folgenden Analyse insofern Grenzen gesetzt, als dass die Themen Westbesuch und Westreise größtenteils noch der wissenschaftlichen Erforschung harren. Zunächst sehe ich mir nach und nach die im Suchergebnis verlinkten 80 Filmsequenzen an. Basierend auf dieser ersten Sichtung formuliere ich, nach Suchbegriffen sortiert, einige allgemeine Eindrücke. Anhand ausgewählter Beispiele erprobe ich dann, welche Erkenntnisse sich gewinnen lassen, wenn man den gesamten Filmbestand einer Familie in die Analyse einbezieht. Denn jede Filmsequenz befindet sich auf einer digitalen Filmrolle, die in einer Filmbox archiviert ist – zusammen mit all den anderen Filmen, die eine Familie der Open Memory Box zur Verfügung gestellt hat. Abschließend diskutiere ich, warum sich womöglich weniger Spuren des Westens entdecken lassen, als anfangs erwartet.

Westpakete und Westwaren

„Es war einmal ein Duft, der war ganz unbeschreiblich fein und lieblich und kam zustande durch eine Mischung von Apfelsinen, Seife, Kaffee, Schokolade und einigen anderen Zutaten mehr. Es war der Duft der großen weiten Welt, fremdartig und luxuriös, und glücklich, wer ihn genießen durfte“, so die Germanistin Petra Kabus über das „Westpaket“.[14] Die Planwirtschaft des SED-Regimes rechnete fest mit den Geschenksendungen. Ihr Inhalt variierte über die Jahre[15] ebenso wie die Bestimmungen[16], welche Waren in welchen Mengen geschickt werden dürfen. Das Ministerium für Staatssicherheit kontrollierte in Zusammenarbeit mit Post und Zoll die Päckchen.[17] Häufig wurden dabei Inhalte entnommen, nicht selten auch das ganze Pakete konfisziert. Dennoch kamen auf diesem Weg vor allem Kaffee und Kakao, aber auch Damenbekleidung in so großer Stückzahl in die DDR, dass die heimische Produktion bzw. der staatliche Import deutlich übertroffen wurden. Zumeist freuten sich die Beschenkten. Doch es kam auch zu Enttäuschungen und Missverständnissen, etwa, wenn die Paketinhalte veraltete Vorstellungen vom Lebensstandard in der DDR spiegelten oder aus dem West-Fernsehen bekannte Markenprodukte erwartet wurden, die sich die Westverwandtschaft jedoch nicht leisten konnte oder wollte.

Obwohl alljährlich mehrere Millionen Westpakete in der DDR ausgepackt wurden, sind unter dem Stichwort „Westpaket“ nur fünf Filmsequenzen in der Open Memory Box zu finden, die Menschen beim Öffnen, Auspacken und Präsentieren solcher Geschenksendungen zeigen.[18] Man sieht erwartungsvolle Gesichter, ungeduldige Aufregung und dann Glückseligkeit beim Betrachten der verschiedenen Produkte – Kleidung, Süßwaren, Spielzeug (OMB Box 007 Rolle 02) (OMB Box 122 Rolle 20). Vereinzelt werden die Inhalte nach dem Auspacken auf einer Art Gabentisch arrangiert (OMB Box 081 Rolle 30). Sie erzählen zugleich ost- und westdeutsche Konsumgeschichte. Dass der Moment des Paketöffnens dokumentiert wird, verrät uns etwas über den besonderen Status des Ereignisses für die filmende Person.[19] In einigen Filmen wird das Paket im Rahmen des Weihnachtsfestes geöffnet und reiht sich damit in das Öffnen weiterer Geschenke ein. Eine Familie packt nach dem Westpaket (erkennbar an dem Logo der Firma Hipp auf dem Karton) noch ein weiteres Paket aus, dessen Inhalte in Zeitungspapier eingewickelt sind und an einer Stelle kyrillische Schrift („Хоккей“) tragen (OMB Box 071 Rolle 10). Es handelt sich um ein in der DDR erhältliches Tisch-Eishockey-Spiel, dem dann viel Aufmerksamkeit und (Kamera-)zeit gewidmet wird; mehrere Kinder versammeln sich und spielen begeistert, später auch deren Väter. Erkennbar lösten nicht nur Westpakete Freude aus.

Sequenz aus OMB Box 071 Rolle 10

Immer wieder sieht man Produkte, die Ostdeutschen bereits aus der westdeutschen Werbung bekannt gewesen sein dürften: Fanta und Coca Cola, Milky Way, Toblerone, Haribo, Nutoka (OMB Box 122 Rolle 20). Es wird deutlich, dass die westdeutsche Markenwelt einen großen Reiz ausübte, denn immer wieder sind Waren zu sehen, die es durchaus auch in der DDR zu kaufen gab – Feuchtigkeitscreme, Kakaopulver, Schokoküsse.[20] Darüber hinaus sieht man Waren, die in der DDR nur eingeschränkt, für vergleichsweise viel Geld oder nur gegen Westgeld erhältlich waren: Kaffee, Kinderbekleidung, Südfrüchte, Strumpfhosen.

Unter dem Stichwort „Westprodukte“ werden weitere neun Filmsequenzen angezeigt, vereinzelt überschneidet sich das Ergebnis mit jenem für „Westpaket“.[21] Einmal cremt sich eine Frau am Strand mit Nivea ein (OMB Box 101 Rolle 14); einmal steht eine Packung Nesquik auf dem Kaffeetisch (OMB Box 092 Rolle 16), einmal Schovit und Sprühsahne (OMB Box 092 Rolle 07); ein Kind holt aus einer Schultüte eine bunte Mischung an Ost- und West-Produkten hervor (OMB Box 097 Rolle 11); eine Familie packt ihre Einkäufe (die ersten im Westen getätigten?) aus und präsentiert sie wie Trophäen (OMB Box 105 Rolle 17). Die Filmsequenzen machen die Präsenz von Waren aus der Bundesrepublik im DDR-Alltag deutlich – beziehungsweise, wie schnell sie Einzug hielten.[22] Verwunderlich ist die extrem geringe Zahl an Filmen. Im Alltag wurde der Besitz von Westprodukten stolz zur Schau gestellt. Es wäre zu vermuten gewesen, dass demnach das Paketöffnen ein wiederkehrendes Motiv ist, da man sich nicht nur gern an den Moment erinnert, sondern ihn auch gern anderen vorführt.

Sequenz aus OMB Box 105 Rolle 17

Von den zehn Familien, deren Filme Westpakete oder Westprodukte zeigen, hat nur eine auch einen Westbesuch und eine andere eine Westreise dokumentiert.

Westbesuch

Obwohl die innerdeutsche Grenze bereits ab 1952 befestigt wurde, besuchten Menschen aus der Bundesrepublik und aus West-Berlin auch weiterhin die DDR. Die meisten kamen, um Verwandte zu treffen. Auch Besuche der Leipziger Messe waren möglich. Gegenbesuche, also Reisen von Ost nach West, wurden nur selten gestattet. Der Bau der Mauer unterband 1961 auch Grenzüberquerungen zwischen Ost- und West-Berlin. Westdeutsche, die bereit waren, einige bürokratische Hürden zu überwinden, konnten jedoch weiterhin Verwandte in der DDR besuchen. Menschen aus West-Berlin hingegen konnten vorerst nur noch im Rahmen der Passierscheinabkommen die östliche Hälfte ihrer Stadt aufsuchen. Erst Anfang der 1970er-Jahre sorgten mehrere Abkommen für Reiseerleichterungen. Wer wollte und wessen Antrag auf Einreise bewilligt wurde, konnte jetzt auch Freundschaften besuchen oder als Tourist in die DDR einreisen. Auch in den folgenden Jahren wurden die Regeln für die Einreise immer wieder geändert, so dass es kaum möglich ist, knapp zusammenzufassen, welcher Personenkreis zu welchem Zeitpunkt welche Papiere benötigte, welche Gebühren zu entrichten hatte und welchen Mindestbetrag umtauschen musste.[23] Kleine Broschüren erläuterten das Verfahren, die Kosten und die erlaubten Souvenirs und Einkäufe.[24]

Die Suche der Open Memory Box nennt 13 Filmsequenzen aus 10 verschiedenen Boxen zum Thema „Westbesuch“.[25] Mehrfach sind ältere Paare zu sehen, die im Westauto an- oder abreisen. Vereinzelt findet der Westbesuch aus einem besonderen Anlass wie der Jugendweihe statt (OMB Box 147 Rolle 09). Doch manche Verwandtschaft aus Ost und West trifft sich auch ganz unprätentiös in Badekleidung (OMB Box 060 Rolle 08). Immer wieder wird das KfZ-Kennzeichen der Westverwandtschaft gefilmt, wie zum Beweis, dass der Besuch auch tatsächlich aus der Bundesrepublik angereist ist. Eine Sequenz dokumentiert – wie ein eingeblendeter Titel verkündet – einen Besuch aus den USA (OMB Box 011 Rolle 05). Ein anderer Film zeigt keinen Besuch, sondern präsentiert einen Gabentisch mit Westprodukten (OMB Box 117 Rolle 04). Ein weiterer Film zeigt lediglich einen aus dem tschechoslowakischen Karlovy Vary abfahrenden westdeutschen Reisebus, in dem jedoch kein Besuch der filmenden Familie zu sitzen scheint (OMB Box 095 Rolle 04). Nur in einer Box (013) sind verschiedene Westbesuche über einen Zeitraum von mehreren Jahren dokumentiert. Sie sind besonders interessant und sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Die Box mit der Nummer 013 enthält insgesamt 24 Filmrollen.[26] Mehrfach taucht das Stichwort „Westbesuch“ auf. Ich beginne mit Rolle 08, einem Film in Schwarz-Weiß: Ein Garten mit einfachem Haus, wohl ein Wochenendgrundstück. Eine kurzhaarige Frau tänzelt fröhlich und ausgelassen im Tankini aus der Tür heraus in den Garten. Ihr folgen ein Mann in Shorts und Polohemd, eine blonde Frau mit Zöpfen im dunklen Badeanzug und ein blondes Mädchen im Bikini. Im weiteren Verlauf des Filmes zeigt sich, dass die blonde Frau die Gastgeberin und das Mädchen ihre Tochter ist. Wir sehen die beiden Familien beim Kaffeetrinken, an einem Badesee, beim Krocket und beim Federball. Die Atmosphäre wirkt ungezwungen und vertraut. Vereinzelt wird die Reaktion der Gäste auf DDR-Produkte filmisch festgehalten: Der Gast liest die Berliner Zeitung, sein Gesichtsausdruck wirkt befremdet-distanziert. Später testet er eine Pentacon AK 8-Schmalfilmkamera. Auch seine Frau zeigt sich davon beeindruckt. Immer wieder filmen sich die Paare gegenseitig.

Sequenz aus OMB Box 013 Rolle 08

Rolle 13 präsentiert einen Farbfilm. Eine Einblendung erklärt: Es handelt sich um Aufnahmen von der Jugendweihe der Tochter im April 1973. Die Kamera folgt der schick gekleideten Familie durch den Tag – vom Festakt über das Festmahl in einer Gaststätte am Leninplatz (heute Platz der Vereinten Nationen) in Berlin-Friedrichshain bis zum ausgelassenen Abend mit Alkohol und Tanz in einer Privatwohnung. Das Paar, das auf Filmrolle 08 als „Westbesuch“ auftaucht, ist ebenfalls dabei. Die Open Memory Box zeigt: Nicht nur von dieser ostdeutschen Familie wurde die Westverwandtschaft ganz selbstverständlich in das sozialistische Initiationsritual eingebunden. Sie reiste an und nahm an den Feierlichkeiten teil, wie sie es wohl auch anlässlich einer Konfirmation oder Kommunion gemacht hätte.

Die nächste Filmrolle, die Nummer 14, trägt den Titel „Besuch im Garten“. Damit spart er die Information aus, dass für den Gartenbesuch zunächst eine Grenze überquert werden musste und es sich um einen „Westbesuch“ handelt. Der Film zeigt den gleichen Nachmittag und Abend, den auch Rolle 08 dokumentiert. Das Intro verrät jedoch, dass der Film von anderen Personen produziert wurde: Der oder die Filmer:in nennt sich G.K. Film, während die meisten anderen Filme in der Box von KW Film präsentiert werden. KW und GK sind vermutlich die Initialen der Familienväter. Eine weitere Besonderheit verrät, dass Rolle 14 und der Jugendweihe-Film auf Rolle 13 die gleichen Urheber:innen haben: Aufnahmen von Blumen oder Tieren werden als visuelle „Kapitel-Trenner“ genutzt. Die Box enthält also zwei Filme, die der westdeutsche Besuch gedreht und anschließend den Gastgebern zur Verfügung gestellt hat. Gravierende Unterschiede zwischen dem ost- und westdeutschen Blick auf den gemeinsam verbrachten Tag lassen sich nicht ausmachen. Ins Auge fällt jedoch die traditionelle Rollenverteilung, die beide Filme bezeugen: Die Gastgeberin deckt den Tisch und serviert das Essen, anschließend machen beide Frauen zusammen den Abwasch, während die Männer filmen.

Sequenz aus OMB Box 013 Rolle 14

Zwischen den Filmrollen 14 und 21 sind ein paar Jahre vergangen. Die ostdeutsche Verwandtschaft filmt nun in Farbe. Das Mädchen, das 1973 Jugendweihe feierte, dürfte nun ca. 18 Jahre alt sein. Da die Filmrolle mit einer Sequenz beginnt, in der die Familie ihr Wochenendhaus von Schnee befreit, könnte es der berüchtigte Winter 1979/80 sein. Stolz wird immer wieder der feuerrote Trabant der Familie gefilmt. Die Kamera dokumentiert den liebevoll gepflegten Garten samt Gartenzwergen und Blütenpracht. Die blonde Frau liegt auf einer Gartenliege und liest die westdeutsche Zeitschrift Freizeit Revue. Schließlich trifft der Westbesuch ein. Diverse Mitbringsel werden aus dem Auto geräumt. Die Familie setzt sich an den Tisch und isst belegte Brote. Ein weiteres junges Paar ist anwesend; sie scheint eine Jeans der Marke Levi‘s zu tragen (OMB Box 013 Rolle 21). Später sieht man die beiden Frauen beim intensiven Austausch über das Häkeln. Die ostdeutsche Gastgeberin trägt eine geblümte Kittelschürze, ihr Besuch aus dem Westen ein rotes T-Shirt und einen langen Rock. Der Altersunterschied zwischen beiden wirkt plötzlich größer als zuvor.

Sequenz aus OMB Box 013 Rolle 21

Die weiteren Filme in der Box legen nahe, dass die beiden Familien aus Berlin sind und womöglich vom Mauerbau auseinandergerissen wurden. Filme aus den 1950er-Jahren zeigen Familie W. bei einem Besuch des Zoos (OMB Box 013 Rolle 24) und der Messe (OMB Box 013 Rolle 24) in West-Berlin und dokumentieren damit „nicht einfach den Familienausflug in einer Großstadt“[27], sondern zugleich das Überqueren der Sektorengrenze in der Hochphase des Kalten Krieges. Man erfährt: Das Paar hat nicht nur eine Tochter, sondern auch einen fünf Jahre älteren Sohn. Rolle 7 zeigt sie mit weiteren Familienmitgliedern im Sommer 1961, also unmittelbar vor dem Mauerbau, bei einem Ausflug zum Schloss Sansscouci in Potsdam. Hier lässt sich bereits Familie K. entdecken, die auf anderen Filmrollen als „Westbesuch“ markiert ist (OMB Box 013 Rolle 07).[28] Auf einem weiteren Film aus den 1970er-Jahren sind sie auch zu sehen, wurden aber ebenfalls nicht als Westbesuch identifiziert und verschlagwortet (OMB Box 013 Rolle 17).

Sequenz aus OMB Box 013 Rolle 17

Anhand dieses Filmbestandes bestätigt sich die These von Sebastian Thalheim, der das private Filmen als Alltagspraxis des doing family und displaying families deutet, also als ein Herstellen und Verfestigen von Verwandtschaft durch das Produzieren, Zeigen und Betrachten von Bildern.[29] Die Kamera sei vor allem auch bei ost-west-deutschen Familientreffen „zum Medium einer gemeinschaftsstiftenden Praxis“ geworden: „Auch wenn man sich teilweise Jahr nicht mehr gesehen hatte, formierten sich die Personen vor der Kamera als Gruppe“ und festigten selbige, indem sie „die Unterschiede überbrücken und Gemeinschaft visuell herstellen“ konnten.[30]

Offen bleibt die Frage: Haben sich die Paare nur alle paar Jahre getroffen oder wurde nicht bei allen Treffen gefilmt? Ihr Umgang wirkt vertraut und nicht, als ob sie sich nur selten sehen würde. Auch die informelle Kleidung spricht dafür, dass die Besuche keinen herausgehobenen Stellenwert hatten. Die dokumentierten Interaktionen unterscheiden sich auch nicht von anderen mit der Kamera festgehaltenen Besuchen von ostdeutschen Freundschaften und Verwandten. Der „Westbesuch“ reiht sich so unauffällig zwischen die anderen Aktivitäten der Familie ein, dass man ihn teils kaum als solchen ausmachen kann.

Damit bieten die Filme einen Kontrast zu vielen schriftlich Erinnerungen, die das Besondere und Außeralltägliche eines Westbesuchs betonen: „Wenn möglich wird dem Gast jeder Wunsch erfüllt, aus Küche und Keller herangeschafft, was sich auftreiben läßt. Das ist so bei offiziellen Besuchen und bei privaten. Der Westgast hat einen Sonderstatus. Erstes Gebot, er soll das nicht bemerken. Aus sachlich nicht zu erklärenden Gründen wird vorausgesetzt, daß jeder Westgast in den materiellen Dingen des alltäglichen Lebens überaus anspruchsvoll ist, er soll nicht entbehren, was er gewöhnt ist. […] Auf das Zauberwort ‚Westgast‘ öffnen sich Sonderkontingente für Hotelzimmer, funktioniert die Tischbestellung im Restaurant, holt der Fleischer ein paar Pfund Lendenbraten aus seiner Privatreserve.“[31]

Eine solch herausgehobene Rolle wird dem Westbesuch einer anderen Familie zuteil. Eine abgefilmte Tafel mit Buchstaben verrät: Im Jahr 1961 ist „Besuch aus Amerika“ zu Gast (OMB Box 011 Rolle 00). Die Kamera folgt zwei Frauen und einem Jungen beim Spaziergang auf einem Feldweg. Beide Frauen sehen sich ähnlich. Könnten es Schwestern sein? Zu diesem Zeitpunkt sind Einreisen aus dem nichtsozialistischen Ausland möglich, man benötigt jedoch eine Aufenthaltsgenehmigung. Da das ungenehmigte Verlassen der DDR seit 1954 verboten ist, lässt sich nur vermuten, dass die amerikanische Besucherin vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt die SBZ/DDR verlassen hat und in die USA ausgewandert ist, oder die von ihr besuchte ostdeutsche Frau einst woanders gelebt hat. Da die Frauen miteinander plaudern, müssen sie eine gemeinsame Sprache haben.

Welche der beiden Frauen aus den USA angereist ist, scheint gleich auf den ersten Blick an der eleganten Kleidung erkennbar, die sie vor dem kleinstädtischen Hintergrund besonders urban und mondän erscheinen lässt: Mit dunklem Etui-Kleid, einer auffälligen mehrreihigen Kette und heller, schmetterlingsförmiger Sonnenbrille läuft sie neben einer Frau, die mit weiter, gemusterter Bluse und knielangem Rock eher unauffällig gekleidet scheint. Später jedoch enthält die Filmrolle eine Farbfilm-Sequenz, die deutlich macht, dass die Graustufen hier einen falschen Eindruck vermitteln: Die ostdeutsche Gastgeberin ist in einem mintgrünen Kostüm zu sehen, farblich exakt passend (mit abgestimmter Bluse und leuchtrotem Lippenstift) zum schicken Familienauto – ein an den Opel Kapitän angelegtes Modell mit Weißwandreifen des sowjetischen Herstellers GAZ (Горьковский автомобильный завод, Automobilwerk Gorki) (OMB Box 011 Rolle 05). Offenbar legen beide Frauen viel Wert auf eine modische Erscheinung.

Sequenz aus OMB Box 011 Rolle 05

Die Dokumentation des amerikanischen Westbesuchs zeigt die beiden Frauen und den Jungen beim Spaziergang am Stadtrand. Die ostdeutsche Frau hat nun eine modische Sonnenbrille auf – vielleicht ein Mitbringsel aus den USA? Hinter dem Rücken des Jungen, der jetzt zwischen beiden Frauen läuft, greift sie den Arm ihrer Besucherin, zieht sie an sich heran und schiebt dabei den Jungen weg und fast aus dem Bild. Offenbar möchte sie sich der Kamera eng vertraut mit ihrer Freundin oder Verwandten präsentieren. Untergehakt laufen die Frauen auf die Kamera zu.

Der Rest der Filmrolle verrät: Der Junge ist der Sohn der ostdeutschen Frau und des filmenden Vaters. Man sieht fröhliche Ausflüge der Familie. Immer wieder experimentieren sie mit der Kamera. Stolz wird das eigene Auto in Szene gesetzt, inklusive gestellter und geschnittener Szenen, damit auch der Vater als Fahrer im Bild ist. Vor dem Eintreffen des Besuchs aus Übersee wurde es ausgiebig geputzt. Dem amerikanischen Gast sollten offenbar ein gewisser Wohlstand und Modernität präsentiert werden.

Westreise

Die Westreise ist ein noch selteneres Sujet in der Open Memory Box als der Westbesuch. Mit dem Passgesetz von 1954 führte das SED-Regime besonders strikte Regeln für die Ein- und Ausreise ein: „Wer ohne Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland verläßt oder aus dem Ausland betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthalts hierbei nicht einhält, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.“[32] Drei Jahre später, im Dezember 1957, erklärte eine Änderung des Passgesetzes auch die Vorbereitung sowie den Versuch einer ungenehmigten Grenzüberquerung zur strafbaren Handlung.[33] Waren 1953 noch 2,2 Millionen Fahrten in die Bundesrepublik genehmigt worden, so sank die Zahl bis 1958 auf 690.000 und nach dem Mauerbau auf 27.000.[34] Doch schon zwei Jahre später öffnete sich der Eiserne Vorhang wieder einen Spalt: Ab 1964 durften ostdeutsche Rentner:innen nach West-Berlin und in die Bundesrepublik fahren – erst nur für maximal 30 Tage, ab 1984 für bis zu 60 Tage im Jahr. Infolge der Annäherung zwischen Ost und West im Rahmen der Entspannungspolitik konnten ab 1972 auch Berufstätige in dringender Familienangelegenheit eine Westreise beantragen. Was dringend ist und wer zur Familie gehört, wurde über die Jahre zunehmend breiter gedeutet.[35]

Neben 13 Filmsequenzen zum Schlagwort „Westreise“[36] nennt die Suche der Open Memory Box weitere sechs zum Suchbegriff „Westdeutschland“[37], elf zu „BRD“[38] und vier zu „West-Berlin“[39]. Die Bilder vermitteln einen ersten Eindruck des ostdeutschen „tourist gaze“[40] und dokumentieren nicht nur, was ostdeutsche Reisende für sehenswert hielten, sondern auch, was sie festhalten und später anderen Menschen zeigen wollten. Während die Motivik der Filme aus dem sozialistischen Ausland westdeutschen Urlaubsfilmen[41] sehr ähnelt – man sieht Strände, Landschaft, Sehenswürdigkeiten und die Mitreisenden beim Genießen ihres Urlaubs – scheinen vor allem die frühen Filme von Fahrten ins nicht-sozialistische Ausland ein eigenes Genre darzustellen. Sie bezeugen, wie sehr die Verheißungen der Konsumgesellschaft die ostdeutschen Gäste faszinieren – Schaufensterauslagen, Neonschriftzüge und andere Werbeschriften werden ausgiebig gefilmt (OMB Box 011 Rolle 06; exemplarisch). Anders als bei Westbesuchen in der DDR, ist die in Westdeutschland aufgesuchte Verwandtschaft eher selten im Bild.

Sequenz aus OMB Box 011 Rolle 06

Auch Historiker:innen, die sich mit der Geschichte der Bundesrepublik oder der Berliner Stadtgeschichte beschäftigen, können hier interessantes Bildmaterial aus den 1950er- und frühen 1960er-Jahren entdecken – zum Beispiel aus Frankfurt am Main und Braunschweig (OMB Box 011 Rolle 06), vom Potsdamer Platz vor dem Mauerbau (OMB Box 123 Rolle 10), der Hamburger Reeperbahn (OMB Box 123 Rolle 01) oder der Zonengrenze bei Helmstedt (inklusive Interzonen-Klause und Linien-Bussen für den Transitverkehr) (OMB Box 098 Rolle 04)(OMB Box 098 Rolle 05). Mit dem Fang- und Verarbeitungsschiff Bernhard Kellermann führt einen die Reise sogar bis nach Kanada (OMB Box 059 Rolle 04).

In einer Filmsequenz des Suchergebnisses begegnet uns jene Familie wieder, die Westbesuch aus Amerika empfing. Diesmal kündigt eine Buchstaben-Tafel an: „Meine Westreise 1961“, dann „Wendershausen“ (OMB Box 011 Rolle 06). Auf der Treppe eines Hauses steht ein älteres Ehepaar vor der Eingangstür. Sind es die Eltern oder Schwiegereltern? Nächste Station der Reise: Frankfurt am Main (OMB Box 011 Rolle 06). Die Kamera fängt das rege Treiben rund um den Hauptbahnhof ein. Autos, Fassaden und Leuchtschrift scheinen die filmende Person zu faszinieren. Immer wieder macht sie Panorama-Aufnahmen, will offenbar die eigenen Eindrücke genauestens festhalten. Es geht weiter nach Zweibrücken (OMB Box 011 Rolle 06). Hier werden ausführlich die Auslagen in Schaufenstern festgehalten: Ein Quelle-Geschäft, ein Miele Waschsalon, ein Fernseher-Geschäft und eine Boutique sind zu sehen. Es wird eine Tafel eingeblendet mit der handschriftlichen Erklärung: „Nur eine kleine Auswahl.“ (OMB Box 011 Rolle 06) Anschließend folgt das Schaufenster eines Juweliers, ein Stand mit Bananen, Äpfeln und anderem Obst, wieder Schmuck und Uhren, ein Modegeschäft. Die Frau kommt freudig strahlend aus einem Spielwaren-Geschäft, lächelt der Kamera zu, wirft kurz einen Blick ins Schaufenster und geht zurück in den Laden. Später wird eine Familie besucht. Dann filmt die Kamera aus dem Fenster eines fahrenden Zugs. Die Frau gerät ins Bild und wirkt nachdenklich bis melancholisch. Sie reagiert nicht auf die Kamera. Ob sie traurig ist, weil sie sich gerade von Freund:innen oder Verwandten verabschieden musste? Nächster Halt: Braunschweig (OMB Box 011 Rolle 06). Vor dem wenige Monate zuvor fertiggestellten Hauptbahnhof lächelt ein Paar der Kamera zu. Wieder dokumentiert die filmende Person Autos, Geschäfte und Häuserfassaden. Schnitt und Wechsel zu Schwarzweiß. Die Andreaskirche kommt ins Bild und die Kamera folgt dem Turm bis zur Spitze. Sie bleibt die einzige Sehenswürdigkeit auf der ganzen Westreise, die festgehalten wird.

Sequenz aus OMB Box 011 Rolle 06

Die restlichen 28 Filmrollen in Box 11 präsentieren eine reiselustige Familie mit zwei Kindern. Die Tochter wurde scheinbar zwei Jahre nach der Westreise geboren. Weitere Fahrten in die Bundesrepublik oder Besuch von Gästen aus dem Westen sind anhand der Verschlagwortung nicht auszumachen. Bei einer Hochzeit (OMB Box 011 Rolle 08) und zur Einschulung der Tochter (OMB Box 011 Rolle 15) scheint jedoch das zuvor besuchte ältere Paar aus Wendershausen anwesend zu sein. Die Aufnahmen nach 1961 stammen allesamt aus sozialistischen Staaten: Zu sehen sind Bilder vom Strandurlaub in Bulgarien, einer Reise nach Budapest, Ferien am Balaton und eine Skireise. Dokumentiert werden, neben dem privaten Familienglück, Ausflüge, historische Bauten, idyllische Landschaften und häufig die einheimische Bevölkerung der besuchten Bruderländer. Anders als auf der Westreise interessieren sich die Filmenden hier nicht für Schaufenster, Fahrzeuge oder moderne Fassaden.

Einige der in der Open Memory Box gezeigten Westreisen wurden erst in der „Wendezeit“ unternommen.[42] Die einen nutzen die Chance für Wanderungen in zuvor nicht erreichbaren Bergen, andere besuchen mit Holiday Reisen Vergnügungsparks (OMB Box 128 Rolle 14), fahren mit dem Auto von Stadt zu Stadt oder lassen sich durch den Hamburger Hafen schippern. Auch lässt sich beobachten, dass Orte aufgesucht wurden, die aus dem Westfernsehen bekannt waren – zum Beispiel die Schwarzwaldklinik (OMB Box 128 Rolle 14).

Teils jedoch sind die wenigen Indizien, die man für eine Datierung nutzen kann, auch trügerisch. So enthält Box 058 Filme von Westreisen in einem VW-Bus (OMB Box 058 Rolle 26). Als Betrachter:in ist man verleitet zu denken, es handle sich um Reisen aus der Zeit nach dem Mauerfall. Doch der Bus hat ein DDR-Kennzeichen. Entstanden die Bilder zwischen Mauerfall und Einheit? Wurden hier die ersten Westreisen im neuen Westauto filmisch festgehalten? Eine kurze Einblendung nennt dann jedoch das Jahr 1988 (OMB Box 058 Rolle 32). Der VW-Bus wurde also noch zu DDR-Zeiten gekauft. Das war zum Beispiel über den Versandhandel Genex möglich – wenn man über Westverwandtschaft oder Westgeld verfügte. Die Auslieferung erfolgte dann binnen acht Wochen und nicht erst nach über 10 Jahren. Der VW Transporter Kombi war Mitte der 1980er-Jahre für knapp 28.000 DM erhältlich.[43] Infolge eines Vertrags zwischen der DDR und Volkswagen war das Modell für Selbständige mit entsprechender Genehmigung auch gegen Ost-Mark zu haben, allerdings nur in geringer Zahl.[44] Da die Film-Box sonst keinerlei Westkontakte dokumentiert, ist dies vielleicht die plausiblere Erklärung? In einem Film aus dem Jahr 1985 taucht der Wagen erstmals auf (OMB Box 058 Rolle 40). Der Vertrag mit VW wurde 1984 geschlossen.

Sequenz aus OMB Box 058 Rolle 40

Springt man zu älteren Rollen in der Box, erfährt man, dass die Familie 1957 offenbar tatsächlich „[t]rotz unendlicher Kämpfe und vielseitiger Schwierigkeiten“ ein eigenes großes Modehaus in Rostock eröffnen konnte (OMB Box 058 Rolle 04). Einige private Unternehmen konnten den Enteignungswellen entgehen und aufgrund eines „fragilen Kompromisses“ weiterhin existieren bzw. sogar neu gegründet werden, wenn sie die vom SED-Regime gesetzten Rahmenbedingungen akzeptierten.[45] Das Einkommen dieser Unternehmer:innen variierte je nach Erfolg stark und konnte durchaus „bis zum Zwanzigfachen des Einkommens eines Facharbeiters“ steigen, „wenn er oder sie geschickt war und ein Geschäft besaß, das stark nachgefragt wurde“.[46] In den verschiedenen Filmen der Box – fast allesamt Farbfilme – wird ostdeutscher Wohlstand sichtbar.[47] Schon in den 1950/60er-Jahren gibt es zu Weihnachten großzügige Geschenke, ein Wochenendgrundstück ist zu sehen, ein Segelboot, ein neuer Lada 311, man fährt in den Winterurlaub; Anfang der 1980er-Jahre baut die Familie der Tochter ein eigenes Haus, später kommt scheinbar ein großer Swimmingpool hinzu, man reist an die Ostsee, nach Rumänien, Ungarn, Polen und Bulgarien, auf die Krim, nach Leningrad und macht eine Kreuzfahrt mit der Taras Shevchenko.

In den 1980er-Jahren kaufen dann offenbar die Tochter und ihr Mann den erwähnten VW-Bus. Drei Filmrollen zeigen die beiden auf einer Fahrt durch die Bundesrepublik.[48] Während die ersten zwei Sequenzen inszeniert sind – das Paar präsentiert sich bei der Reiseplanung im Klappstuhl neben ihrem VW-Bus, es folgt eine Nahaufnahme von einer Landkarte und eine Hand zeigt die Fahrtstrecke – sind die restlichen Aufnahmen beiläufig entstanden.

Sequenz aus OMB Box 058 Rolle 26

Die Reise scheint ungewöhnlich, denn damals konnten DDR-Bürger:innen, die noch nicht das Rentenalter erreicht hatten, eigentlich nur in dringender Familienangelegenheit eine Westreise beantragen. Ist der Mann der Tochter in die Firma ihres Vaters eingestiegen und haben beide Reisekader-Status? War das Modehaus nach der Enteignungswelle von 1972 überhaupt noch in Familienbesitz? Nutzt das Paar eine Dienstreise für touristische Entdeckungen? Mehrfach sind Stopps dokumentiert, die beruflich motiviert scheinen: So wird zum Beispiel die Firma Seidel Moden in der Nähe von Bayreuth besucht. Immer wieder wird aber auch Halt gemacht, um die Aussicht zu genießen. Anders als stereotype Vorstellungen es heute vielleicht vermuten lassen würden, sind die beiden anhand ihrer äußeren Erscheinung nicht als Ostdeutsche identifizierbar. Er hat eine modische Piloten-Sonnenbrille auf. Sie trägt anfangs eine Seersucker-Bluse in Pastelltönen mit Bundfalten-Hose, zieht sich auf der Fahrt aber immer wieder um. An ihrem ersten Stopp inspizieren beide das Schaufenster einer Boutique, sie fotografiert es. Sind sie auf der Suche nach Inspiration für das eigene Geschäft? Filmrolle 26 endet am Rasthaus Spessart, Filmrolle 27 zeigt die Weiterfahrt Richtung Frankfurt am Main, einen Halt in Rüdesheim und eine Fahrt entlang des Rheins. Wir sehen die Burg Rheinstein und die mitten im Rhein gelegene Burg Pfalzgrafenstein. Rolle 32 zeigt dann offenbar die Fortsetzung. Die Open Memory Box verortet den Film in Hessen. Zu sehen ist wieder der Rhein, dann ein großes Tagebau-Areal. Kurz im Bild ist (laut Verschlagwortung) auch ein Familien-Besuch, der jedoch keine besondere Vertrautheit oder Herzlichkeit ausstrahlt und ebenso ein Geschäftstreffen sein könnte wie zuvor bei der Firma Seidel (OMB Box 058 Rolle 32). Damit endet die Westreise. Wer die filmende dritte Person auf der Reise war, lässt sich nicht feststellen. Womöglich eine Kollegin oder ein Kollege? Oder der Vater und Unternehmensgründer?

Sequenz aus OMB Box 058 Rolle 32

Auf weiteren Filmrollen sind Orte in Österreich und eine Fahrt im Autozug markiert – der Grossglockner (OMB Box 058 Rolle 61) und Salzburg (OMB Box 058 Rolle 74) werden besucht. Hier lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Reisen vor oder nach dem Mauerfall stattfanden. Das Alter des jüngeren Sohnes, der offenbar 1984/85 geboren wurde, lässt vermuten, dass die Filme eher aus den frühen 1990er-Jahren stammen.

Würden sich in der Open Memory Box mehr Filme von Westreisen befinden, ließe sich untersuchen, ob man von einem spezifischen ostdeutschen tourist gaze auf die Bundesrepublik sprechen kann und ob dieser einem zeitlichen Wandel unterlag. So lässt sich nur festhalten, dass die Familie auf ihren Reisen keine vergleichbare Faszination für die Warenwelt des Westens erkennen lässt wie das 1961 reisende Paar – was indes auch in ihrem sozialen Status begründet sein könnte. Stattdessen halten die Filmenden ebenso Sehenswürdigkeiten fest, wie sie es auch auf Reisen in sozialistische Staaten machen. Veränderte sich der Blick auf den Westen über die Jahre? Variierte er je nach sozialer Herkunft oder von Generation zu Generation? Diesen Fragen nachzuspüren könnte lohnenswerte Erkenntnisse zu Tage fördern über die gegenseitige Wahrnehmung von Ost und West vor der deutschen Einheit. Dazu müsste jedoch eine themenspezifische Filmsammlung angelegt werden.

Resümee

Visuelle Spuren des Westens ließen sich in unterschiedlicher Form auf ostdeutschen Schmalfilmen in der Open Memory Box entdecken. Doch warum wurden der Westbesuch oder das Auspacken von Westpaketen insgesamt eher selten gefilmt? Warum ist nicht eine einzige der unzähligen Rentnerreisen in den Westen dokumentiert? Eine mögliche Erklärung lautet, dass die filmische Dokumentation von Westkontakten vermieden wurde aus Sorge, der Film könne in die falschen Hände geraten und den Hobby-Filmer:innen Schwierigkeiten bereiten. Schmalfilme konnten, anders als s/w-Fotografien, nicht selbst entwickelt werden, sondern mussten der Filmfabrik Wolfen bzw. den DEFA-Kopierwerken in Berlin geschickt werden, was womöglich (nicht zu Unrecht) Bedenken weckte, hier könne eine Kontrolle stattfinden. Für manche Familien mögen der Besuch aus dem Westen und das Eintreffen von Westpaketen auch so alltäglich gewesen sein, dass sie nicht auf die Idee kamen, diese Ereignisse filmisch festzuhalten. Für andere wiederum waren sie vielleicht so besonders und aufregend, dass sie die Kamera darüber völlig vergaßen. In den 1980er-Jahren mag auch die zunehmend als rückständig empfundene Technologie den Ausschlag gegeben haben, dass die Kamera lieber im Schrank blieb, wenn der Westbesuch kam und vielleicht sogar seine neue Videokamera mitbrachte.[49]

Hilft es uns weiter, wenn wir nach den Akteur:innen fragen, nach jenen Menschen, von denen die Filme stammen? Vor allem „in den 1950er-Jahren konnte sich nur ein extrem kleiner und privilegierter Teil der Bevölkerung diese Kameras leisten, sofern es sie denn überhaupt in den Geschäften gab“.[50] Im folgenden Jahrzehnt wurden „Schmalfilmapparaturen stärker zum Konsumgut für die DDR-Bevölkerung“, wobei noch immer primär Besserverdienende und somit nur „0,8 Prozent der 6,4 Millionen Haushalte“ über eine Schmalfilmkamera verfügten: „Schmalfilmen (…) war ein Hobby der wohlhabenden, urbanen, gut ausgebildeten Schicht“.[51] Daran änderte sich auch in den 1970er-Jahren wenig: „1972 betrug der Ausstattungsgrad mit Schmalfilmkameras in der DDR (8mm und 16mm) nur zwei bis drei Prozent“.[52]

Doch wer war wohlhabend und privilegiert? Und liefert uns diese Information eine mögliche Erklärung für die eher geringe Trefferzahl zum Suchbegriff „West“? Von jenen, die ihre Privilegien einer gehobenen Position in Politik oder Partei oder einer Tätigkeit bei den bewaffneten Organen verdankten, wurde häufig ein Abbrechen privater Westkontakte erwartet oder zumindest deren Meldung. Dass Vertreter:innen dieser Gruppe Westbesuch empfingen und die Treffen auch noch filmisch dokumentierten, scheint eher unwahrscheinlich. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass diese Gruppen teils anderweitig Zugang zu Westgeld oder Westwaren hatten und auf diese Weise durchaus im Suchergebnis vertreten sein könnten. Handwerker:innen und Gewerbetreibende konnten über den Graumarkt an Devisen und somit an Westprodukte gelangen. Wer aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und politischen Loyalität Reisekader war, hatte eher die Möglichkeit, eine Westreise filmisch festzuhalten, wollte dies aber vielleicht lieber nicht.[53]

Für die Arbeit mit der Open Memory Box kann abschließend festgehalten werden, dass bei der Verwendung der Suche etwas Vorsicht geboten ist: Die Marker wurden teils nicht ganz präzise gesetzt, oft beginnt die Filmsequenz eigentlich schon etwas früher. Auch die Verschlagwortung ist nicht konsistent.[54] Da auch Aufnahmen aus den 1990er-Jahren archiviert wurden, lässt sich in manchen Fällen nicht ermitteln, ob die gezeigte Westreise noch zu DDR-Zeiten stattgefunden hat. Generell sollte man sich stets die ganze Filmrolle ansehen, um wenigstens etwas Kontext zu erhalten. Möchte man mehr über die Filmenden und ihr Werk erfahren, lohnt sich die Mühe, alle Rollen einer Box zu sichten (die jedoch nicht chronologisch sortiert sind). Für eine effektive, systematische Nutzung des Archivs wären einheitliche Schlagworte, korrekt gesetzte Marker sowie eine Datierung und Verortung der Filme wünschenswert.[55] Auch eine etwas höhere Auflösung wäre von Vorteil, damit gefilmte Schrift lesbar wird, zum Beispiel auf Straßenschildern, Plakaten, Schaufenstern oder Wegweisern.

Was kann die Open Memory Box trotz dieser Defizite leisten? Indem die Filme uns immer wieder in die Irre führen, mit Erwartungen brechen und einem so manchmal auch die eigenen Vorurteile (oder auch das schlechte Gedächtnis) vor Augen führen, sensibilisieren sie uns neu dafür, wie komplex der deutsch-deutsche Alltag war. Zudem trainieren sie das Auge und lehren uns, genauer hinzusehen. Denn stets muss mit Zurückhaltung geurteilt werden, da die Filme nur kurze Momentaufnahmen sind. Oft weiß man nicht: Ist hier wirklich der Westbesuch im Bild oder fährt gerade der ostdeutsche Verwandte das Westauto Probe? Verrät die Levis-Jeans den westdeutschen Gast oder präsentiert ein Ostdeutscher stolz sein Lieblingskleidungsstück? Diese Verunsicherung kann ungemein produktiv sein, da sie uns dazu zwingt, sämtliche Vorannahmen kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Der „Westbesuch“ wurde nur vereinzelt visuell herausgestellt, denn meist war es eher die Absicht der Filmenden, die Familie als „intakte Gemeinschaft“ zu präsentieren.[56] Deutlich herausgehoben hingegen wurden in die DDR geschickte Westprodukte sowie Schaufenster und Waren, die sich bei Westreisen entdecken ließen. Damit bezeugen die Filme für einzelne Familien eine ungebrochene Verbundenheit mit der Verwandtschaft in der Bundesrepublik sowie eine generelle Begeisterung für die Markenwelt der westlichen Konsumgesellschaft – und konterkarieren zugleich offizielle staatssozialistische Bildprogramme, in denen diese Facetten der DDR-Gesellschaft kaum visualisiert werden.

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