Die DDR im Schmalfilm Bild

Medienkonsum:
Zeitung, Radio, Fernsehen

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Medienkonsum: Zeitung, Radio, Fernsehen

von Michael Meyen

29. Juni 2022

Die Open Memory Box täuscht nicht: Die DDR war ein Medienland. Presse, Radio und Fernsehen gehörten zu den selbstverständlichen Dingen des Alltags – bei allem Wissen um die medienpolitischen Ziele der SED. Der Beitrag zeigt, wie der Journalismus genutzt wurde, um die gerade aktuellen Ziele der führenden Partei zu unterstützen, was die Menschen im Land daraus gemacht haben und welche Rolle die Westmedien dabei spielten.

1. Medien in der Open Memory Box

Den Alltag mit der Kamera festhalten, die Bilder archivieren und immer wieder zeigen, wenn es die Gelegenheit erlaubt: Im Vor-Internet-Zeitalter ist das Medienemanzipation pur – erst recht in einer Gesellschaft, in der sich die Herrschenden permanent und begründet um ihre Legitimation sorgen mussten und deshalb den Anspruch hatten, die öffentliche Kommunikation möglichst umfassend zu steuern und zu kontrollieren. Dieser Anspruch schloss die Zeitungen der Parteien und Massenorganisationen genauso ein wie die staatlichen Sender oder Veranstaltungsöffentlichkeiten (Demonstrationen, Großversammlungen) und rechtfertigte auch die vielen Versuche, den Zugang zu westlichen Medienangeboten entweder zu unterbinden (Presse) oder durch moralischen Druck wenigstens einzuschränken (Fernsehen und Radio) und zeitweise auch zu unterbinden (durch Störsender in den ersten zwei Jahrzehnten oder durch die „Aktion Ochsenkopf“ in den ersten Wochen nach dem Mauerbau, wo FDJ-Gruppen Antennen von den Dächern holten).

Umso erstaunlicher ist, wie viel Medienkonsum in den sehr privaten Aufnahmen zu sehen ist, die in der Open Memory Box dokumentiert werden. Im „Anti-Archiv“ finden sich zwar keine entsprechenden Schlagworte (deshalb heißt es auch „Anti-Archiv“), eine Suche nach dem Begriff „Zeitung“ zum Beispiel ergibt aber 41 Treffer. Gelesen wird in nahezu allen denkbaren Situationen, an allen denkbaren Orten und von allen möglichen Menschen – vom Kleinkind (OMB Box 111 Rolle 02) bis zur Oma (OMB Box 145 Rolle 09), am FKK-Strand (OMB Box 037 Rolle 07) und einmal auch mit einem Hund (OMB Box 122 Rolle 23). Man sieht die ABC-Zeitung (eine Zeitschrift für diejenigen, die gerade das Lesen gelernt haben) (OMB Box 086 Rolle 05), das SED-Zentralorgan Neues Deutschland (OMB Box 142 Rolle 24) und andere Parteiblätter (OMB Box 142 Rolle 24). Und: Die Menschen lesen tatsächlich, ohne Abscheu oder Ekel. Ein Mann, der mit einer Frau gemütlich auf der Wiese sitzt (möglicherweise seine Frau oder seine Geliebte), setzt Neckereien und liebevolle Blicke ein, um endlich zur Zweisamkeit zu kommen, schafft es aber nicht, die Lektüre zu beenden .

Sequenz aus OMB Box 145 Rolle 12

Nicht nur die Tageszeitung scheint ein selbstverständlicher Teil des DDR-Alltags gewesen zu sein. Beim Schlagwort „Radio“ bin ich auf 55 Filmausschnitte gekommen und bei „Fernsehen“ sogar auf 89. Die Geräte sind buchstäblich überall (auch im Zelt oder am Strand) und offensichtlich auch Gegenstände, zu denen die Menschen eine besondere Beziehung entwickelt haben. Viermal haben es sogar Ausschnitte aus dem Westfernsehen in die Open Memory Box geschafft – abgefilmt vom Bildschirm und schon wegen der schlechten Qualität vermutlich nur noch von Insidern mit den Ursprungssendungen zu verlinken (OMB Box 010 Rolle 12). Offenbar war es den Menschen hinter der Kamera trotzdem wichtig, diesen Ausschnitt ihres Lebens für sich selbst oder für die Nachwelt festzuhalten.

2. Medienverbreitung

Die DDR war ein Zeitungsland. Ende der 1980er Jahre kamen auf 1000 Einwohner knapp 600 verkaufte Exemplare. Ähnlich hohe Werte haben in der Geschichte nur die Presse-Weltmeister Japan und Norwegen erreicht. Im letzten DDR-Jahrzehnt kamen auf jeden Haushalt anderthalb Zeitungsexemplare, und drei von vier Haushalten hatten eine SED-Bezirkszeitung abonniert. Selbst Briefkästen, in denen drei Zeitungen steckten, waren keine Seltenheit: neben dem Lokalblatt das Neue Deutschland und für die Kinder die Junge Welt, das Organ der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Selbst ein solcher Dreier-Pack war dabei billiger und dünner als das, was der Zeitungsbote heute täglich bringt. Für 2,70 Mark (Junge Welt), 3 Mark (SED-Bezirkszeitung) bzw. 3,50 Mark (ND) im Monat wurden den Abonnenten auch im letzten DDR-Jahrzehnt nicht mehr als sechs bis zehn Seiten pro Tag und Zeitung geliefert.

Wenn man die Schwarzhörer mitzählt, die es auch in der DDR gab, kann man auch beim Radio ab Mitte der 1960er Jahre von Vollversorgung sprechen. Mitte der 1980er Jahre hatte ein durchschnittlicher DDR-Haushalt zwei bis drei Geräte. Das erklärt, warum das Radio auch am Strand (OMB Box 028 Rolle 07) und beim Zelten gefilmt werden konnte (OMB Box 019 Rolle 06) und warum es in den Wohnungen gewissermaßen überall zu sehen ist.

Sequenz aus OMB Box 028 Rolle 07

Die Hörerforscher des Staatlichen Rundfunkkomitees kamen auf ähnliche Ergebnisse wie ihre Kollegen in der Bundesrepublik. Drei von vier Ostdeutschen hörten (in der Regel nebenbei) an einem Durchschnittstag Radio, die Hördauer lag zwischen zwei und zweieinhalb Stunden, und ganz oben in der Hörergunst standen leichte Musik und Nachrichten sowie (mit etwas Abstand) Informationen über die Region und Ratgeberbeiträge. Eingeschaltet wurde das Radio vor allem am frühen Morgen und am späten Nachmittag.

Auch beim Fernsehen gab es keine großen Unterschiede zu Westdeutschland, wenn man davon absieht, dass der Siegeszug des Heimkinos etwas langsamer vonstattenging (1970 hatten etwa 80 Prozent der Haushalte einen Apparat) und das Farbempfang bis zum Ende der DDR bei Gerätepreisen von mehreren tausend Mark für viele Menschen unerschwinglich blieb. Die 1964 gegründete Abteilung Zuschauerforschung ermittelte stets die gleichen Wünsche: Immer lagen Unterhaltung und Entspannung, Vergnügen und Humor vorn: bunte Shows, Filme, vor m allem Kriminal-, Abenteuer- und Tierfilme, sowie Serien.

Sequenz aus OMB Box 105 Rolle 21

Mit etwas Abstand folgte der Wunsch, über aktuelle Ereignisse informiert zu werden. Diese Befunde decken sich mit entsprechenden Befragungen in allen Industriegesellschaften.

3. Mediensteuerung

Die Anleitung der DDR-Medien reichte bis in den Anzeigenteil und schloss Abstimmungen mit den ‚zuständigen Stellen‘ (im Zweifel die jeweilige Abteilung im ZK der SED) sowie Vorab-Kontrollen ein. Bei den Anforderungen an die Redaktionen lassen sich drei Muster unterscheiden. Die „politisch inszenierte Öffentlichkeit“ sollte erstens ganz nach dem ‚Freund-Feind-Schema‘ die Vorzüge der sozialistischen und die Krise der kapitalistischen Gesellschaft herausstellen, zweitens die gerade aktuellen Interessen der Herrschenden unterstützen und dem Gegner dabei drittens weder eine Angriffsfläche bieten noch etwas verraten, was der Westen möglicherweise für seine eigenen Interessen nutzen konnte (vgl. ausführlich Michael Meyen, Öffentlichkeit in der DDR, SCM 2011).

Das heißt auch: Die Medien sollten dafür sorgen, dass sich die Menschen in der DDR wohlfühlen, damit sie im Land bleiben und höhere Leistungen erzielen. Wer sich daran hielt, wurde von den Medienaufsehern gelobt. Lob gab es auch, wenn man die Rüstungspolitik der USA kritisierte schrieb oder die Friedenspolitik Ost von der Kriegspolitik West absetzte. Dieses Kommunikationsmuster, das die Fiktion von der Überlegenheit des Sozialismus in der Öffentlichkeit platzieren sollte, zielte vor allem auf die eigene Bevölkerung und war von den Redaktionen vergleichsweise leicht umzusetzen, zumal hier Nutznießer und Anhänger des Systems arbeiteten. Ob die Medienfiktionen den Erfahrungen des Publikums entsprachen oder dem, was in anderen Öffentlichkeitsarenen verhandelt wurde, spielte dabei keine Rolle.

In den Aktenüberlieferungen des Lenkungsapparats lässt sich im Detail nachvollziehen, wie die Herrschenden die Medien außerdem für ihre außen- und handelspolitischen Interessen genutzt haben (das zweite Ziel). Die konkreten Anweisungen sind dabei nur zu verstehen, wenn man die jeweilige innen- und außenpolitische Situation berücksichtigt. Sah man eine Veröffentlichung als Gefahr für die gerade aktuellen Interessen, wurden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Die Anweisungen betrafen keineswegs nur den Politikteil. Als Chile 1987 die Fußball-WM der Junioren veranstaltete (bei der die DDR immerhin Bronze gewann), wurden die Chefredakteure aufgefordert, nur die nackten Ergebnisse zu melden und erst bei den Endspielen „länger zu berichten“. Auf diese Weise hoffte man Diskussionen zu unterbinden, bei denen gefragt wurde, was Fußballer aus einem sozialistischen Land im Reich von Pinochet zu suchen haben. Ein zweites Beispiel, das eher in die Innenpolitik gehört: Nachdem die Ostsee-Zeitung am 12. Mai 1979 eine Leserfrage zu den „sogenannten Einkaufstouristen“ aus Polen veröffentlicht und ihren Autor (den Universitätsprofessor Johannes Kalisch) auch noch Zustimmung signalisieren lassen hatte („Mich ärgern ebenso wie Sie jene ‚Touristen’, die Berufsreisen vor allem zu Einkaufszwecken unternehmen“), versprach SED-Agitationssekretär Joachim Herrmann seinem Chef Erich Honecker zu prüfen, wie dieser Beitrag in die Zeitung kommen konnte, und alles zu tun, damit in „Zukunft solche politischen Fehler ausgeschaltet werden.“ (Belege in Meyen 2011)

Diese Affäre um die Ostsee-Zeitung zeigt zugleich das dritte medienpolitische Ziel. Die SED-Spitze hat der anderen Seite unterstellt, in allen Veröffentlichungen nach Schwächen der DDR zu suchen oder nach sonstigen Möglichkeiten, dem Land zu schaden. Die Medienlenker bemühten sich deshalb, in der innenpolitischen Berichterstattung alles zu unterdrücken, was der Gegner für seine Interessen nutzen konnte. Der Rostocker Artikel informierte den westlichen Leser auch „offiziell“, dass die DDR-Bevölkerung über polnische Hamsterkäufer klagte.

4. Westmedien in der DDR

Die Massenmedien der Bundesrepublik wurden von der SED zu Recht als größte Gefahr für die Deutungshoheit im öffentlichen Raum gesehen. Im ganzen Land waren von Anfang an westliche Radiosendungen zu empfangen (meist in guter Qualität), und später gab es dann auch fast überall Westfernsehen, mit Ausnahme der Gebiete im „Tal der Ahnungslosen“, zu dem neben dem Bezirk Dresden auch der Nordosten der DDR gehörte. Die Nutzung von Westmedien wurde zwar nie gesetzlich verboten, die SED versuchte aber trotzdem, die Konkurrenz auf der Ebene Massenkommunikation zu unterdrücken – indem sie erstens im Wortsinn den Zugang beschränkte, zweitens in der „politisch inszenierten Öffentlichkeit“ moralischen Druck aufbaute und drittens in ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit berücksichtigte, dass die meisten DDR-Bürger Zugang zu westlichen TV- und Hörfunksendungen hatten.

Die „Pressemauer“ stand bereits Ende 1948. Schon vor der Gründung der DDR war es nicht möglich, auf legalem Weg Tages- und Wochenzeitungen oder Publikumszeitschriften aus den Westzonen zu beziehen. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte die Vertriebsmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt und schließlich der Post das Monopol zugesprochen. Was nicht auf der Postzeitungsliste stand, konnte nicht bezogen werden. Obwohl das Ministerium für Staatssicherheit die Postzensur übernahm und die Verbreitung (aber nicht der Besitz) von Westblättern unter Strafe stand, kamen in den 1950er Jahren zahlreiche Druckerzeugnisse in den Osten, weil das Kontrollsystem dem innerdeutschen Verkehr nicht gewachsen war und weil es in Westberlin Abholabonnements für DDR-Mark gab. Erst der Mauerbau dürfte den Nachschub verringert haben, genau wie bei den Schmökern, deren Vertrieb in der DDR ab 1955 unter Strafe stand (Verordnung zum Schutz der Jugend vom 15. September). Auch die Versuche mit Störsendern, die vor allem gegen den RIAS gerichtet waren und nur in Volkspolizeikreisämtern aufgestellt wurden, funktionierten nicht wirklich. Die DDR war wirtschaftlich nicht in der Lage, den Technik-Rüstungskampf gegen die Westsender zu gewinnen, die Bürger kauften sich einfach leistungsfähigere Geräte, und außerdem störten die Heultöne auch die eigenen Programme.

Länger anhaltende Folgen hatte der moralische Druck in der „politisch inszenierten Öffentlichkeit“, der erst in den frühen 1970er Jahren nachließ, weil die SED-Führung inzwischen wusste, dass die Bürger vor allem umschalteten, um sich zu unterhalten, und vielleicht auch, weil man jetzt annahm, die Mehrheit der Menschen für sich gewonnen zu haben. Die vier West-TV-Ausschnitte in der Open Memory Box lassen sich so ganz verschieden deuten. Einerseits war es offenbar selbst im privaten Bereich (beim Filmen des Alltags) nur bedingt opportun, den Blick zum Klassenfeind festzuhalten. Sonst hätte es mehr Fundstellen gegeben. Andererseits gibt es diese Ausschnitte. Offenbar war das Umschalten Alltag. Vielleicht wollten die Menschen aber einfach aus nur festhalten, dass sie sehr souverän mit den Angeboten von beiden Seiten umgehen konnten.

Höhepunkt aller Versuche, den Westempfang einzudämmen, war die „Aktion Ochsenkopf“ im September 1961. Nachdem die Grenze geschlossen war, sollte die „innere Desinfektion“ folgen. Ab heute schlage wieder der Blitz ein, hatte die Junge Welt am 5. September 1961 geschrieben. „Diesmal trifft er alle Ochsenköpfe und geistigen Grenzgänger.“ Die Rezepte des Blattes, um die „vom Westdrall Infizierten“ zu heilen: diskutieren, zur Not eine „Tracht Prügel“ und bei den „Unbelehrbaren“ die Antennen drehen oder gleich ganz entfernen. „Unser Ziel: Der Bonner Strauß darf in kein Haus! Alle hören und sehen die Sender des Sozialismus!“ Wer sich in Versammlungen nicht bekehren und von Drohungen in der Presse nicht beirren ließ, musste mit FDJ-Kommandos rechnen, die Antennen von den Dächern holten. Großen Erfolg hatten die Demontierer nicht. In den Randgebieten Berlins und einem 50-Kilometer-Streifen an der Grenze konnte der Westen per Zimmerantenne empfangen werden. Dazu kam das Basteltalent vieler DDR-Bürger. Außerdem verschlechterten die Übergriffe die Stimmung im Land. Schon am 7. September 1961, zwei Tage nach dem Startsignal in der Jungen Welt, stellte die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees fest, dass der Kampf um das Westfernsehen die Bevölkerung weit stärker beschäftige als alle anderen Maßnahmen nach dem 13. August.

Als Erich Honecker 1973 sagte, in der DDR könne jeder westliche Sender „nach Belieben ein- und ausschalten“, war der moralische Druck längst schwächer geworden und betraf fortan nur noch öffentliche Orte (also Encounter und Versammlungs- oder Veranstaltungsöffentlichkeiten), die bewaffneten Organe und Parteikader. Mitte der 1960er Jahre war es zwar noch üblich, die Westantenne erst abends auf den Balkon zu stellen und nach Sendeschluss wieder abzumontieren, die Abteilung Agitation stellte aber schon damals in einem internen Bericht fest, dass man am Arbeitsplatz, am Biertisch und besonders in der Eisenbahn ohne Scheu über das Gesehene spreche und das Programm zum Teil auch schriftlich verbreite (Belege in Meyen 2011).

5. Glaubwürdigkeit und Nutzungsmotive

Es gibt keine Indizien, dass die einheimischen Medien zu irgendeinem Zeitpunkt in der DDR-Geschichte glaubwürdig waren. Wann immer die Leser befragt wurden: Sie klagten über die rosarote Brille, über Zahlendrescherei und Phrasen. Die überlieferten Quellen (Umfragen aus Ost und West, Analysen von Publikumszuschriften, Akten) können zwar nicht verlässlich über Größenordnungen informieren, wenn das Material aber nicht völlig täuscht, dann haben weite Teile der Bevölkerung (vor allem Frauen, die durch ihren Alltag ausgelastet waren, und Menschen, die mit ihrem Leben in der DDR weitgehend zufrieden waren) die Medienangebote aus Ost und West in erster Linie zur Unterhaltung genutzt und die Politikberichterstattung gemieden, sowohl in den DDR-Medien als auch in den TV- und Hörfunksendungen aus der Bundesrepublik. Nur einer der vier Westfernsehausschnitte hält einen Nachrichtenschnipsel fest.

Sequenz aus OMB Box 079 Rolle 24

Zu den Menschen, die am Abend vor allem entspannen wollten, kommt ein Nutzertyp (aus dem Umfeld der Kirchen), der Botschaften der SED aus Prinzip ausgewichen ist.

Vor allem in den Eliten der DDR-Gesellschaft (Führungskräfte in der Wirtschaft, der Partei und in Verwaltungen), im Kreis der erklärten Regimegegner, zu dem zum Beispiel Künstler, Pfarrer oder Intellektuelle gehören konnten, und von Menschen, die sich von der DDR zurückgewiesen fühlten (weil ihnen sozialer Aufstieg verwehrt worden war, weil sie sich unterbezahlt fühlten oder an der Bürokratie gescheitert waren), wurden die DDR-Zeitungen aber intensiv gelesen am . Ein Pfarrer, Jahrgang 1942, sagte in einem medienbiografischen Interview, er habe das Neue Deutschland gelesen, weil dort „die SED-Meinung“ gestanden habe. „Das hat man gelesen, um die Art zu kennen, wie bestimmte Dinge interpretiert werden von offizieller Seite. Wie ist der Bericht gemacht, was wird berichtet und was wurde weggelassen. Wie sollte es verstanden werden.“ Ein Schriftsteller, der in einem Kirchenverlag Lektor war, aber trotzdem ebenfalls das Neue Deutschland abonniert hatte, sprach vom „Lesen zwischen den Zeilen“ und den „Zwischenräumen“. Da das SED-Zentralorgan etwa zur gleichen Zeit Redaktionsschluss hatte wie die Tagesschau, habe man „schon am nächsten Vormittag sehen“ können, „wie sind die damit umgegangen, mit den Meldungen, die die Tagesschau hatte. Ich habe bestimmt jeden Tag eine Stunde gelesen, im Neuen Deutschland“. Für eine intensive Lektüre sprechen auch die Befunde der regelmäßigen Leserbriefanalysen in der Redaktion. Die meisten Einsender monierten Fehler: „falsche Faktenangaben, falsche Zahlen, Maße, Namen, Daten und Berechnungen, falsche Schreibweisen, geografische Fehler und Satzfehler“.

Die Motive für ein Abonnement der Lokalzeitung unterscheiden sich nicht sehr von dem, was man über andere moderne Gesellschaften weiß. Die Menschen wollten wissen, was in ihrem Umfeld passiert: Wer ist gestorben, wo wird gebaut, wer wurde befördert und wer hat etwas zu verkaufen, was ich vielleicht gebrauchen kann? Den Politikteil konnte man entweder überfliegen oder nutzen, wenn man sich auf eine Schulung oder eine Versammlung vorbereiten musste und auf der Suche nach Formulierungen war, mit denen man über die Runden kommen konnte, ohne bei der Funktionärskaste anzuecken. Das vergleichsweise billige Abo konnte von außen außerdem als Indikator für die Loyalität des Haushalts gewertet werden. Seht hier: Wir lesen doch sogar eine Parteizeitung oder das FDJ-Blatt. Dazu kam das Dauerproblem Papiermange l , das über alte Presseexemplare wenigstens gelindert werden konnte.

Da die DDR-Bürger wussten, dass die Zeitungen nicht unabhängig waren, hat die SED ihnen in der „politisch inszenierten Öffentlichkeit“ (unfreiwillig) Informationen geliefert, die sie für die Orientierung benötigt haben. „Es durfte eben nichts Negatives passieren im Sozialismus“, sagte eine Kindergärtnerin, Jahrgang 1944. „Ich glaube, die hätten sogar ein Erdbeben verschwiegen.“ Erfolgsmeldungen wie bei den Wahlen habe man sich gar nicht mehr angehört. So etwas „Lächerliches“ und dann noch „die sinnlosen Berichte über die Melkerin X und den Arbeiter Y“ – all das habe dazu geführt, dass man den DDR-Medien überhaupt nichts mehr geglaubt habe, auch nicht die „kritischen Berichte“ über das Leben in der Bundesrepublik. Selbst Ratgeber und Werbung wurden mit Misstrauen bedacht. Der Schriftsteller hat von einem „tiefsitzenden Vorurteil“ gesprochen. Wenn große Plakate „Eier sind gesund“ gerufen hätten, habe er sofort gewusst, dass die Kühlhäuser voll sind und die Eier wegmüssen. Umgekehrt hätten Aktionen unter dem Motto „Fleisch ist schädlich“ auf einen Engpass hingedeutet. Ähnliche Belege finden sich auch in den überlieferten Leserbriefen. Ein Dresdner SED-Mitglied beschwerte sich im November 1979, dass die Presse nicht mehr über die „Kosten- und Preisentwicklung in den RGW-Ländern“ berichte. Durch solche Informationen sei man früher wenigstens darauf vorbereitet gewesen, dass die Entwicklung auch „um die DDR keinen Bogen machen“ werde. Jetzt habe man nur Gerüchte, und die Folge sei eine „Lawine von Angstkäufen“ (Belege in Meyen 2011).

6. Fazit

Die Open Memory Box zeigt: Es führt nicht sehr weit, wenn man die Zeitungen der SED und andere Medienangebote aus der DDR mit dem Stempel Propaganda versieht und die Menschen im Land entweder zu Opfern einer permanenten Gehirnwäsche macht oder zu Tätern mit Kamera, Mikrofon und Stift. Presse, Funk und Fernsehen gehörten zum Alltag. Die allermeisten hatten kein Problem, auch in aller Öffentlichkeit ein Parteiblatt zu lesen und dabei manchmal sogar Spaß zu haben. Fernsehapparat und Radiogerät waren so selbstverständlich, dass sie wie nebenbei festgehalten wurden. Manchmal steht diese Technik auch für besondere Momente: für den Urlaub am Strand oder mit dem Zelt, für einen gemütlichen Abend in der Familie (OMB Box 105 Rolle 21), für ein Weihnachtsfest.

Sequenz aus OMB Box 086 Rolle 06

Der Umgang mit den konkurrierenden Programmen aus Ost und West hat sich spätestens ab Mitte der 1970er entspannt. Einer der Filmausschnitte hält hier sogar einen weltgeschichtlichen Moment fest: einen Bericht über das Attentat auf US-Präsident Ronald Reagan 1981

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