Die DDR im Schmalfilm Bild - Gemeinschaft und Geselligkeit

Gemeinschaft und Geselligkeit

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Gemeinschaft und Geselligkeit

von Andreas Ludwig

07. Juli 2022

Der Essay „Gemeinschaft und Geselligkeit“ beschäftigt sich mit privaten und halböffentlichen Formen des Feierns. Die vergleichende Betrachtung der Amateurfilme zeigt eine gewisse Choreographie der Feierlichkeiten, wobei das Verhalten der Akteurinnen und Akteure ebenso dokumentiert wird wie die Rahmenbedingungen, unter den sie stattfinden. Die Filme erscheinen dabei eher als Zeitbilder denn als Quellen einer historischen Kontextualisierung oder gar einer Verortung in der DDR. Dagegen fangen sie Stimmungen und unterschiedliche Grade von Gemeinschaftsbildung bis hin zur Vertrautheit ein, die die soziale, situative und emotionale Rolle von Geselli gkeit verdeutlichen.

Privates Filmen ist anlassbezogen, doch anders als private Fotografieren fängt der Film neben der Situation auch Bewegung ein. Das Festhalten des Augenblicks verlängert sich, die Dokumentation verschiebt sich in Entwicklung, gelegentlich dramaturgisch komponiert. Aus diesen Gründen erscheinen Panoramaschwenks über Mittelgebirgslandschaften ebenso filmenswert wie der starre Kamerablick aus dem Zug- oder Busfenster, das Krabbeln des Babies ebenso wie die An- und Abfahrt von Autos. Dieses Zusammenspiel von Anlass, Akteuren und Dynamik in historischen Amateurfilmen aus der DDR betrifft viele Sujets, doch soll es in den folgenden Auführungen an einem Gegenstand nachvollzogen werden, der Auskunft über eine jeweils spezifische Mikro-Gesellschaft geben kann.

Das verlängerte Festhalten des Augenblicks soll deshalb am Beispiel des Filmens von Gemeinschaft und Geselligkeit Thema werden. Es handelt sich um ein beliebtes Filmmotiv: eine Schlagwortsuche in der Open-Memory-Box ergab unter dem übergreifenden Stichwort „Feier“ 123 Einträge, bei der Suche nach spezifischen Geselligkeitsanlässen wurden 82 Filmsequenzen zum Thema „Geburtstag“, 150 zu „Hochzeit“, 59 zu „Jugendweihe“, elf zu „Konfirmation“ und 35 zu „Fasching“ gezählt. Die Mehrzahl dieser Filmsequenzen sind mehr oder weniger kurz, dokumentieren die Anwesenden eher als Dagewesene denn als Protagonisten, zeigen die dargebotenen Speisen und Getränke sowie, sofern vorhanden, die Tischdekoration und streifen das Ambiente, also Wohnzimmer, Gartenterrassen oder Klubräume. Einige der durch die Stichwortsuche aufgefundenen Filme stechen jedoch aus verschiedenen Gründen heraus, sei es durch ihre Dramaturgie oder durch die Intensität ihrer Beobachtung. Die im Folgenden näher betrachteten Filme zeigen verschiedene Anlässe der Geselligkeit und ihre Routinen sowie die zumeist anlassbezogene Herstellung von Gemeinschaft. Betrachtet werden sollen die Handlung, der Anlass und die Settings der Handlung, also Kleidung oder Tischordnung, die Kommunikation der Anwesenden mit dem filmenden Mitglied der Gemeinschaft sowie Hinweise auf zeitgeschichtliche Kontexte.

Der zunächst besprochene Film zeigt eine Familienfeier in ihrem „klassischen“ Setting. Was ihn aus den vielen anderen gefilmten Feierlichkeiten heraushebt, ist ein dramaturgischer Kniff und die zeitgeschichtliche Kontextualiserung. Beginnen wir mit Letzterem: Der Film (OMB Box 072 Rolle 07) zeigt eine bäuerliche und kirchlich gebundene Familie. Die hier näher betrachtete Rolle 07 zeigt neben der Einschulung eines kleinen Jungen die Konfirmation einer jungen Frau, andere Filme dieser Provenienz wiederholen die Anlässe in späteren Jahren, so dass sich eine filmische Generationenabfolge rekonstruieren und ebenso nachverfolgen lässt, wie sie den ländlichen Hintergrund dokumentiert. Hinzu kommen, wie zu erwarten, Bilder von Urlaubsreisen, so dass die 30 Filme der Box 72 in ihrer Summe eine Art Milieustudie darstellen. Rolle 7 wurde in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gedreht. So jedenfalls lässt sich aus Kleidung und vereinzelten modischen Frisuren (OMB Box 072 Rolle 07; ab 8:11) sowie einer Tanzszene (OMB Box 072 Rolle 23; ab 8:28, aufgrund des Alters der Protagonistin erkennbar in den Kontext der Rolle 07 gehörend) schließen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hier jedoch die Konfimationsfeier einer jungen Frau, zu der sich etwa 15 Familienmitglieder versammelt haben. Auf dem Tisch stapeln sich Mischbrotscheiben neben kalten Platten (ab 3:44), später ist eine große Schüssel Feinkostsalat im Bild. Neben jedem Teller steht eine Flasche Bier. Es folgt das ins Bild gesetzte Eintreffen der Feiergäste, denen die Kamera jeweils für einige Sekunden folgt, zuerst die Frauen, dann die Männer. Einige Personen lächeln in die Kamera, einige werfen einen scherzhaften Blick, andere gehen an der Kamera vorbei, vorgeblich ohne sie wahrzunehmen (ab 3:59). Ein letzter prüfender Blick auf den Tisch (4:54) und nun kann das Essen beginnen (ab 5:13), gefolgt vom Übergang zur Bowle (6:12). Die Gespräche nehmen Fahrt auf, der Kamera wird zugeprostet, wobei diese die steigende Stimmung durch schaukelnde Kamerabewegungen visualisiert (ab 6:20). Schließlich folgen Kaffee und Kuchen (7:35 bis 8:11), womit die Filmsequenz endet.

Sequenz aus OMB Box 072 Rolle 23. 3:44 bis 8:11

Wir haben es hier mit einer schon fast standardisierten Abfolge einer Familienfeier zu tun, die wenig Überraschendes bietet: Man filmt den festlichen Tisch, die einzelnen Familienmitglieder beim Essen sowie die kommunikative Situation, die sich unter dem Einfluss von Alkohol und dem Einbau ritueller Elemente entwickelt. Betrachtet man die einzelnen Anwesenden genauer, so gibt es eine eindeutige Hauptperson, eine Frau, die die Mutter der Konfirmandin sein könnte. Sie prüft den Tisch, sie wird häufig ins Bild genommen, wie sie ihre Gesprächspartner sowie den Kameramann (?) mit kurzen scherzhaften Kommentaren bedenkt. Und die Konfirmandin? Sie darf der versammelten Familie die Konfirmationskleidung vorführen: groß gemusterter Wollmantel, dunkles Kostüm, Nahtstrümpfe (5:06 bis 5:15). Ansonsten bleibt sie im Hintergrund, darf eingangs einen Blick auf die gedeckte Tafel werfen (3:44), Getränke einschenken (5:32), wobei dies ihre Aufgabe zu sein scheint, denn sie trägt nun eine helle Halbschürze, ansonsten kommt sie nicht mehr ins Bild. In einer ähnlichen und zeitgleichen Familienszene (OMB Box 072 Rolle 23; ab 8:41) ist die junge Frau kurz am Rande der feiernden und schunkelnden Familie zu sehen. Es scheint, als fühle sie sich in diesem Kreis gehemmt, anders als zusammen mit jüngeren Kindern, die beim Kartenspiel gezeigt werden. Mitten in dieser Szene tanzt die junge Frau Twist (OMB Box 072 Rolle 23; ab 8:28).

Kehren wir zur sich langsam lockernden Familienfeier zurück, genauer dem zu solchen Gelegenheiten verbreiteten Alkoholeinsatz. Er ist über die Jahrzehnte in vielen privaten Filmen als Teil einer Feierlichkeit festgehalten worden, wobei sich zwischen den 1950er und 1980 Jahren eine leichte Verschiebung von Bier und Schnaps zu Bier und Wein feststellen lässt. Bowle taucht über die Jahrzehnte verlässlich auf, Sekt vermehrt. Auch scheinen die Routinen der Familienfeiern einer gewissen Choreographie zu folgen. Dem teils kalten, teils warmen Essen mit Bier (seltener Wein) folgen Kaffee und Kuchen, wahlweise auch kaltes Abendbrot mit Tee, und danach wird die Runde fröhlicher. In Box 013, Rolle 11 kann ab 4:50 die Abfolge Kaffee und Torte, Bowle, Tee und Schnittchen, Kaffee und „Dreistern“, vermutlich ein Weinbrandverschnitt, verfolgt werden, bevor die feiernde Runde ins Lachen gleitet.

Sequenz aus OMB Box 013 Rolle 11. 4:50 bis 7:14

Feiern sind selbstverständlich nicht nur im familiären Rahmen verbreitet und die beiden Filmsequenzen auf Box 021, Rolle 04 zeigen dies in einer besonderen Umgebung: vermutlich in einem „Feierabendheim“ gedreht, sind jüngere Frauen in weißer „Schwesterntracht“ zusammen mit alten Menschen zu sehen. Auch hier ist die Abfolge Essen-Tanzen präsent, wobei Alkohol selten ins Bild kommt – was nicht heißt, dass es keinen gab. Ganz offensichtlich ist das Fest für Bewohner*innen und Beschäftigte ein Grund zur gemeinsamen Ausgelassenheit, wie die Tanzszenen zeigen. Einige Bewohner spielen Akkordeon, Geige und Klavier (OMB Box 021 Rolle 04; ab 3:17 ist ein Bechstein zu sehen!), dazu werden verschiedene Tanzsstile ausgeübt, vom Rundtanz bis zum Twist und Andeutungen von Rock´n´Roll (2:34 und 4:03). Leider ergeben sich aus den Filmsequenzen ebensowenig zeitgeschichtliche Kontexte, wie aus den übrigen Filmen der Box, sodass die Frage offen bleiben muss, um was für eine Institution es sich genauer gehandelt haben könnte. Die Begleitung der Feiern mit Akkordeon, Violine und Klavier spricht für kulturelle Ambitionen und Fähigkeiten und die Verfügbarkeit eines Klaviers der Marke Bechstein, die ansonsten einen erheblichen Teil der Konzertflügel stellt, für entsprechende Standards und Zugriffsmöglichkeiten. Da die Firma Bechstein in West-Berlin produziert hat, könnte es sich um ein Vorkriegsmodell handeln, was für einen privilegierten Zugriff der Feierlokalität auf rare und teure Instrumente spricht.

Sequenz aus OMB Box 021 Rolle 04. 2:34 bis 4:03

Diese Feierlichkeit in institutionellem Rahmen leitet zu weiteren gesellschaftlichen Feierformen über, die ebenfalls gefilmt wurden. Einen ersten Einblick geben die Filme der Box 046, die im Kontext der Kulturarbeit im Brandenburgischen Bad Belzig entstanden sind. Die 18 Filme dieser Box zeigen, neben privaten Aufnahmen, Exkursionen von Gruppen des „Jugendklubs“, Aufnahmen von Veranstaltungen der jährlich in der Stadt stattfindenden Burgfestwoche sowie verschiedene Feierlichkeiten, etwa Weihnachts- und Faschingsfeiern, Auszeichnungsveranstaltungen und Auftritte von Musikgruppen.

Die 5:20 lange Rolle 046-15 zeigt eine solche Veranstaltung, die in ihrer Dramaturgie im Folgenden dargestellt werden soll. Eingangs versammeln sich Jugendliche in einem großen Klubraum, dessen Funktion anhand der einfachen Bestuhlung und eines Posters mit den Portraits der Beatles erahnbar ist. Die Eingangssequenz verweist auf den möglichen gesellschaftlichen Zusammenhang der kommenden Feier, indem die Jugendlichen gemeinsam ein Brigadetagebuch betrachten (OMB Box 046 Rolle 15; ab 0:55). Im Anschluss versammeln sich immer mehr Menschen um die mit Gläsern, Weinflaschen und Schnittchen gedeckten langen Tische, bis schließlich stehend gemeinsam angestoßen wird (ab 1:46). Auf die filmische Dokumentation des gemeinsamen Essens und Trinkens wird in diesem Film verzichtet. Die Szene geht unmittelbar in den Tanz über, indem zunächst der Plattenspieler gezeigt und die Musik vorgestellt wird: zu sehen ist das Cover einer Langspielplatte („Wim Toelke präsentiert“, eine Serie westdeutscher Schlagerkompilationen, die auf Sendungen des ZDF beruht, 1:57) und gezeigt wird, wie sich die Tanzfläche langsam füllt. Dann ist es aber an der Zeit für den offiziellen Teil der Veranstaltung, indem wir sehen, wie ein offiziell aussehender Mann etwas von einem Blatt Papier abliest (3:22). Wie zum Kontrast zeigt die anschließende Szene ein sich küssendes junges Paar im Küchentrakt (3:37), bevor erneut das Tanzvergnügen ins Bild genommen wird. Der Tanz wird rockiger, die Kamera zoomt im Rhythmus der Musik in die Szenerie herein und heraus (ab 4:17 bis Ende der Rolle). Obwohl auch ältere Besucherinnen der Veranstaltung beim Tanz zu sehen sind, handelt es sich offentlich um eine Veranstaltung für Jugendliche, die die Szenerie bestimmen, wobei die Gemeinschaftlichkeit sich nicht allein beim Tanz, sondern auch in der Kußszene oder im Dienst hinter der Bar zeigt, wo ein junger Mann und eine junge Frau zusammen Gläser spülen und trocknen (ab 4:37). Es ist also nicht allein die anlassbezogene Geselligkeit, sondern auch eine auf Vertrautheit beruhende Gemeinschaftlichkeit, die ins Bild gesetzt wird.

Sequenz aus OMB Box 046 Rolle 15. 0:00 bis 5:20

Ganz anders dagegen der folgende Film, der eine Familienfeier aufzeichnet (OMB Box 057 Rolle 23; vermutlich Ende der 1970er Jahre). Gemeinschaft und Geselligkeit erscheinen in einem eher formalen Rahmen innerhalb des eingeübten Feierprotokolls. An einer langen und auffallend breiten (Kommunikation über den Tisch hinweg unmöglich) weiß gedeckten Festtafel, die mit Kerzen und Blumen geschmückt ist, versammelt sich die etwa 30-köpfige Familie (oder sind Freunde einbezogen?) zum Mahl. Es gibt ein warmes Essen, Wein, später Nachtisch, die Protagonist*innen sitzen fest am Tisch und werden bedient. Man lauscht einem vom Zettel abgelesenen, offenbar anlassbezogenen Vortrag. Dieses steife Arrangement wird durch den obligatorischen Tanz abgelöst (ab 3:35), die entsprechende Musik bereitet eine dreiköpfige Band (Gitarre, Schlagzeug, elektrisches Klavier). Damit löst sich das Tafelarrangement auf und der Tanz scheint einem weiteren Arrangement, dem der Tanzschule, zu weichen, denn nunmehr sitzen viele Familienmitglieder aufgereiht auf den an den Rand geschobenen zusätzlichen Stühlen. Es folgen, wie kann es anders sein, Kaffee & Kuchen sowie ein kaltes Abendbrot (ab 6:23 und 6:52) und wiederum Tanz (ab 7:53). Ganz offenbar handelt es sich um eine bedeutende Feierlichkeit, wie allein der Aufwand zeigt, ohne dass sie durch den Film entschlüsselt werden könnte.

Was der Film dem Betrachter hingegen vermittelt, ist eine gewisse Beklemmung, die durch die Steifheit des Verhaltens der Festteilnehmer*innen und die so gar nicht zu einer Familienfeier passende Umgebung hervorgerufen wird. Im Gegensatz zu Familienfeiern, die, wie bereits beschrieben, in privater Umgebung stattfanden, herrscht hier ein offizielles, kalt wirkendes Arrangement vor, das die zuvor beobachtete, alkohol- und engebedingte Enthemmung vermissen lässt und beim Betrachter ein leichtes Schaudern der Wiedererkennung hervorgerufen hat. Allerdings wird diese emotionale Reaktion durch eine Randbeobachtung aufgewogen, die grandiose Wanddekoration, mit der der Saal, möglicherweise der Multifunktionssaal einer Wohngebietsgaststätte, geschmückt ist.

Sequenz aus OMB Box 057 Rolle 23. 2:46 bis 3:42

Solche Feierlichkeiten haben nur noch wenig mit Gemeinschaft und Geselligkeit zu tun, die Ausdruck einer Vertrautheit im privaten ebenso wie im halböffentlichen Raum sind und in verschiedenen Filmen zu beobachten waren. Ganz offensichtlich wurde hier der geschützte Raum der Wohnung zugunsten einer angemessener erscheinenden Lokalität verlassen, was jedoch einen Verlust an Intimität und zwanglosem Verhalten bedeutete. Aus diesem Grund verlassen wir abschließend den routinisierten Parcours anlassbezogener Feierlichkeit und kehren noch einmal zur vertrauten und vertrauensbestätigenden Gemeinschaft zurück.

Box 105 dokumentiert in 16 Filmen die etwa zehn Jahre dauernde Lebensspanne eines jungen Paars zwischen Studium und Familienleben. Interessant ist vor allem der erste Film, der in der Reihe der 16 Einzelfilme auch der früheste ist. In ihm ist ein Zusammentreffen von vier Freunden auf dem Balkon zu sehen, der, neben dem rahmengebenden Zusammenschütten einer Bowle aus Rot- und Weißwein, vor allem das entspannte und vertraute Miteinander im Gespräch zeigt (Box 105, Rolle 1, 4:29 bis 9:00).

Sequenz aus OMB Box 105 Rolle 01. 4:29 bis 9:00

Diese intimen Momente des Beisammenseins interpretieren den verlängerten Moment in einer völlig undramatischen Weise, denn es gibt kein besonderes Ereignis zu berichten, auf den der Film hinsteuern könnte, keinen erkennbaren Anlass, den es zu feiern gelte, keine narrative Entwicklung. Die Kamera dokumentiert lediglich von zwei Standorten aus die Anwesenden, auch wird selten der Kontakt zum Filmenden (aufgrund der Gruppensituation wird auf einen männlichen Filmer geschlossen) gesucht. Kontextinformationen fehlen hier, bis auf eine auf dem Tisch liegenden Zigarettenschachtel der Marke Marlboro, völlig. Dennoch scheint der Film nicht nach der Währungsunion gedreht worden zu sein, denn Kleidung und Frisuren verweisen eher auf den Beginn der 1980er Jahre, eine Hypothese, die sich durch die Analyse der folgenden Filme des Bestands Box 105 erhärten ließe.

Es handelt sich um die Rolle (OMB Box 105 Rolle 28) die jedoch in der Suchroutine nicht unter Box 105 erscheint, aber unter dem Stichwort „Feier“ aufzufinden ist. Sie zeigt erkennbar die gleichen Protagonisten, ist jedoch zeitlich früher einzuordnen und fällt, vermutet aufgrund des Schnitts der Hemden und der langen Haare, noch in die 1970er Jahre. Zu sehen ist eine Gruppe junger Männer am Ende ihrer Schulzeit oder Lehre, eine Freundesgruppe, die sich für Motorräder und Musik interessiert. Dies wird zum einen an einer Szene deutlich, die die Freunde im Hof des Wohnhauses zeigt, wo sie sich mit zwei Motorrädern beschäftigen (OMB Box 105 Rolle 28; ab 04:15), zum anderen an der Ausstattung des Jugendzimmers im gleichen Haus, an dessen Wände mit Postern verschiedener Rockgruppen dekoriert sind. Hier lohnt ein genauerer Blick auf die Ausstattung: ein Schreibtisch am Fenster und zwei in L-Form zusammengestellte Betten mit einem stark gemusterten Überwurf bilden die Funktionszonen, an der Wand ist zudem ein Poster mit dem Portrait von Che Guevara zu sehen (OMB Box 105 Rolle 28; 08:26 bis 09:35). In anschließenden Szenen sind weitere Details erkennbar, ein Kofferradio gehobener Ausstattung, ein Röhrenradio, eine Wasserpfeife, ein Plattenspieler. Worauf es hier jedoch ankommen soll, ist die soziale Situation, die sich in zwei Ebenen teilt: zum einen werden Portraits gezeigt, etwa in einer langen Einstellung, die das Gesicht eines der Protagonisten zeigt, (ab 09:52), zum anderen im Umgang mit Dingen. Hier wird etwa nacheinander ein Buch und ein Motorradhelm auf dem Drehstuhl des Schreibtischs drapiert (ab 08:56), gleichsam als Platzhalter für den Bewohner des Zimmers, der unmittelbar danach auf dem Stuhl Platz nimmt. Hier wird spielerisch an der Wasserpfeife gesaugt (ab 09:41), am Kofferradio gespielt (ab 09:48) oder, in einer neuen Szene (10:01 bis 10:50) in einem anderen Raum, eine Schallplatte (ab 10:06) aufgelegt. Die Szenen zeigen die Freunde beim zwanglosen Beisammensein und es entsteht eine (Atmo-)Sphäre großer Vertrautheit miteinander. Die Bilder zeigen auch das Ende einer Lebensphase, denn in der letztgenannten Szene wird der Einberufungsbefehls für einen der Jugendlichen ins Bild gerückt (10:16), in einer früheren, den Motorrädern gewidmeten, ein Freund im Armeemantel (06:08) gezeigt.

Sequenz aus OMB Box 105 Rolle 28. 4:15 bis 10:50

Die Filme der Box 105 zeigen eine nicht an Ereignissen orientierte Dokumentation des Lebensgefühls einer Freundesgruppe – und später einer aus diesem Kreis stammenden Familie – über Jahre hinweg, die auch wegen ihrer Intimität aus dem Gros anderer Schmalfilme heraussticht. In biographischer Hinsicht sind die Filme der Box 105 darüber hinaus aufschlussreich, weil aus der Freundesclique heraus der weitere Lebensverlauf in Filmen dokumentiert ist, beginnend mit dem Studium in Jena hin zur Paarbeziehung, der Hochzeit und dem anschließenden Familienleben mit zwei Kindern. Nunmehr dominieren allerdings Bilder der Kinder, der als Mutter agierenden Frau und von Urlauben, mithin eine andere Realität.

Private Schmalfilme dienen, wie wir exemplarisch gesehen haben, der Dokumentation des privaten und halböffentlichen Lebens. Ihre Sammlung und die Zusammenstellung in einer Open Memory Box suggeriert eine zeitgeschichtliche Dimension und eine DDR-Spezifik, der hier jedoch mit einer gewissen Skepsis begegnet wird. Dies ist nicht allein durch die, wenn überhaupt, nur indirekt zu erschließende Kontextualisierung der Filme bedingt, die sich aus ihrer Zuordnung zu provenienzbezogenen „Boxen“ ergibt, sondern auch durch die Komposition der gefilmten Sujets, deren dokumentarischer Charakter sich ja allein durch den antizipierten Gebrauch des/der Filmenden herstellt. Sicherlich können durch eine Bildbetrachtung ebenso generalisierende wie erwartbare Verweise auf eine Verortung der Filme in der DDR aufgefunden werden, von abblätternden Hausfassaden im Bildhintergrund und spezifischen Automarken bis hin zu Aufnahmen des Berliner Fernsehturms im Kontext von Besuchsfahrten. Dies alles lässt sich in ausreichender Häufigkeit finden.

Die Spezifik könnte jedoch, so die Hypothese bei der Wahl des Themas „Gemeinschaft und Geselligkeit“, woanders gelegen haben. In der Tat geben die hier ausgewählten Filme Hinweise auf die nach 1990 immer wieder behauptete größere menschliche Nähe, die die DDR im Unterschied zur kapitalistischen Kälte bestimmt habe. Man kann die Filme in dieser Weise lesen, auch, dass sich Gemeinschaft und Geselligkeit als Indizien eines so gearteten Gemeinschaftsgefühls keineswegs auf den privaten Rahmen beschränkten. Andererseits stellt sich die Frage, inwieweit sich die gefilmten Feiern und Feierlichkeiten von denen, beispielsweise in der Bundesrepublik, unterschieden haben könnten. Eine ganze Reihe von gefilmten Einzelheiten wie beispielsweise die Speisen und Getränke erscheinen angesichts von kalten Platten, Feinkostsalaten, Bier und Bowle eher zeit- als gesellschaftsbedingt. Auch die beinahe normiert erscheinende Choreographie der Feiern macht Unterschiede zwischen Gera und Gelsenkirchen unwahrscheinlich. Dennoch gibt es diese Unterschiede, und sie manifestieren sich im halböffentlichen Raum, der, so der Eindruck, in der DDR weiter gesteckt war, als in der Bundesrepublik. Allein anhand der hier ausgewählten Beispiele Feierabendheim, Jugendklub und Wohngebietsgaststätte, die durch die ebenfalls in der Open-Memory-Box zusammengetragenen Filmausschnitte von Betriebs- und Auszeichnungsfeiern ergänzt werden könnte, zeigen dieses halböffentliche soziale Feld als Teil einer gesellschaftlich bedingten Organisation zwischen Privatheit und Öffentlichkeit.

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