Die DDR im Schmalfilm Bild

Soziale Ungleichheit und Hierarchien durch die Linse der Privatheit Eine Spurensuche in den Filmen der Open Memory Box

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Soziale Ungleichheit und Hierarchien durch die Linse der Privatheit

Eine Spurensuche in den Filmen der Open Memory Box

von Christoph Lorke

28. Juli 2022

Der Beitrag geht der Frage nach, ob und in welcher Form in den Privatfilmen der Open Memory Box Spuren von sozialer Ungleichheit zu finden sind. Was verraten die zeitgenössischen Darstellungen und Aneignungen der „Wirklichkeit“ über das Erleben und Wahrnehmen sozialer Unterschiede, über die Sensitivität hinsichtlich der Beobachtung „des Sozialen“? Auf welche Weise lassen sich soziale Differenzierungen über das Visier der Filmenden einfangen, rekonstruieren und historisch bewerten?

Auf welche Weise und in welchem Ausmaß moderne Gesellschaften von verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit geprägt waren und sind, ist eine Frage, die zunehmend und in den letzten zehn bis 15 Jahren verstärkt auch die (Zeit-)Geschichtswissenschaft interessiert.[1] Soziale Ungleichheit ist konstitutives Moment jeder Gesellschaft. Allerdings reagieren unterschiedliche Gesellschaften auf verschiedene Weise auf soziale In- und Exklusionsprozesse. Dies traf folglich auch auf die DDR zu, in der es gemäß ideologischer Selbstsicht keine nennenswerten Ausprägungen sozialer Ungleichheit geben durfte und Ausbeutung, Armut, Reichtum und nennenswerte materielle Unterschiede eindeutig und ausschließlich als gesellschaftlich bedingt galten. Die bis zum Ende ihrer Existenz sich beharrlich haltende Behauptung, soziale Ungleichheit und Notlagen seien beseitigt, fungierte als zentraler Bestandteil der Herrschaftslegitimierung nach innen, während sie nach außen als Signum der Überlegenheit des Sozialismus ausstrahlen sollte. Sozialpolitische Leistungen und präventiv-interventive Maßnahmen sollten der eigenen Bevölkerung wie auch den Menschen außerhalb der eigenen Grenzen vor Augen führen, dass sozialistische Gesellschaften die gerechtere, humanere Alternative zu ihren westlichen Pendants darstellten.

Gleichwohl: Unterschiedliche Formen sozialer Differenzierung und Hierarchisierung existierten auch hier – und Überlegungen, diese auch historiographisch zu erschließen, liegen inzwischen vor. Jens Gieseke schlug beispielsweise vor, bei der Analyse sozialer Ungleichheit die „Verteilung von Vor- und Nachteilen als „intersektionales Geflecht“ zusammenzudenken und dabei insbesondere die Distinktionsmerkmale „Beruf und Vermögen, Qualifikation, Geschlecht, die körperliche Fähigkeit zur Erwerbstätigkeit, ethnische und andere kulturelle Differenzen“[2] zu berücksichtigen. Denn ungeachtet aller politischen und ideologischen Verlautbarungen gab es auch im „real existierenden Sozialismus“ der DDR – wie dies für alle weiteren Gesellschaften des Staatssozialismus Geltung beanspruchen kann – verschiedene und durchaus nennenswerte Formen sozialer Unterschiede und Ungleichheiten. Diese wurden spätestens seit dem Mauerbau von Wissenschaftler:innen umfassend untersucht, etwa in wissenschaftlichen Studien zur Lebenslage von Altersrentner:innen, kinderreichen Familien, als „dissozial“ oder „asozial“ strafrechtlich wie gesellschaftlich stigmatisierten Bevölkerungsgruppen und anderen sozialen „Randgruppen“. Die Befunde dieser Arbeiten indes blieben einer breiten Öffentlichkeit verborgen bzw. bewusst vorenthalten, da sie gewiss unliebsame Fragen nach den Grenzen der sozialistischen Vergemeinschaftung und der Verwirklichung des ideologisch artikulierten Ziels aufgeworfen hätten, die viel und mit Nachdruck beschworene Annäherung der „Klassen und Schichten“ herbeizuführen.[3]

Heute wissen wir, dass diese Postulate und Versprechungen einer egalitären Gesellschaft in der DDR, wie auch in den anderen Ländern des „Ostblocks“, eine Illusion blieben. Im Ergebnis erkennen wir teils horrende und offensichtliche Widersprüche bezüglich sozialer Fragen, die den Bürger:innen der DDR je nach Wohnort, Arbeitsumfeld, Sensitivität für soziale Fragen, Generation, Herkunft, Geschlecht sowie dem jeweiligen Aufnahmezeitpunkt allerdings kaum entgangen sein dürften – die jedoch vermutlich auch in höchst unterschiedlicher Weise rezipiert, fokussiert, beobachtet, übersehen oder ausgeblendet sind. Im Medium des hier zu analysierenden Privat- oder Amateurfilms kommt diesen mutmaßlichen Wahrnehmungen eine besondere Bedeutung zu, denn die entscheidende Frage, die sich beim Besehen des Materials stellt, ist, inwiefern soziale Gegebenheiten explizit zum Thema gemacht werden sollten – vielleicht nicht nur nüchtern vergleichend, sondern gar an- bzw. beklagend oder mit dem Wunsch sozial-investigativer Dokumentation und Aufklärung – oder gewissermaßen allenfalls en passant filmisch eingefangen wurden. Dies lässt sich für den Einzelfall kaum rekonstruieren, denn dafür sind die kontextualisierenden Angaben zu marginal und eine Befragung der jeweils Filmenden würde wohl nur wenig Aufschluss über ihre jeweiligen Motivationen und Intentionen liefern. Dennoch – so viel sei vorweggenommen – offerieren diese einzigartigen wie überaus facettenreichen Quellen einen ausgesprochen authentischen Einblick in die Alltags-, Kultur- und Sozial-, Geschlechter und Emotionsgeschichte der DDR-Gesellschaft. Sie verweisen ferner nicht zuletzt – nolens volens – immer wieder auf verschiedene Formen sozialer Nuancierungen und lassen danach fragen, ob und auf welche Weise soziale Differenzen in der DDR überhaupt auf privat-individueller Ebene erfasst worden sind, wie sich Modi sozialer Unterschiede durch die Linse der Zeitgenossen deuten lassen[4] und wie sich das immerwährende Sprechen über den staatssozialistischen Egalitarismus auf das Verständnis sozialer Unterschiede durch die (auch) eigen-sinnigen Blicke des individuellen Beobachters auswirkte. Kleidung, Wohnen, Reisen, der Besitz von Fernseh- und Radiogeräten sowie Automobilen oder anderen (höherwertigen) Konsumgütern: All dies waren Formen sozialer Distinktion und Ausdifferenzierung, die erst durch die Filme Sichtbarkeit erlangten, weshalb diese vom Kulturanthropologen Sebastian Thalheim auch treffend als „Individualisierungsmotoren des Sozialismus“[5] charakterisiert wurden. Mit der zeitgenössischen Problemwahrnehmung (und Wahrnehmbarkeit bzw. Sichtbarkeit) hinsichtlich der gesellschaftlichen Ordnung und somit den damaligen Perzeptions- und Bewertungssystemen wird eine erhebliche Forschungslücke tangiert, denn noch wissen wir viel zu wenig über derartige Reflexionsprozesse, ihre Pluralität, Entwicklung und Historisierung – und ebenso wenig wissen wir über damit verbundene mögliche Nischenblicke, gerade in diktatorischen Zusammenhängen, die sich über die intimen Blicke der Privatheit auf das Gesellschaftspolitische ergeben konnten.[6]

Die filmische Aneignung der sozialen Wirklichkeit durch die Filmemacher:innen stand mitunter im deutlichen Widerspruch zu politisch-ideologischen Wunsch- und Zerrbildern einer affirmativ projizierten und gebetsmühlenartig produzierten sowie permanent reproduzierten sozial-harmonischen staatsozialistisch-egalitären Gesellschaft mitsamt ihren geringen sozialen Differenzierungsgraden, vernachlässigenswerten Einkommensunterschieden und weitgehend einheitlichen sozialpolitischen Leistungen. Bisweilen werden aber jene Bilder „von oben“ durch das filmische Aufgreifen schlicht wiederholt und verstärkt. Dies sagt weniger über die wirklichen sozialen Gegebenheiten, als über die Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten des und der Einzelnen von „dem Sozialen“ aus. Soziale Ungleichheiten waren weitgehenden tabuisiert. Vielleicht stehen diese Aufnahmen aber auch für eine Verinnerlichung des Versprechens „sozialer Sicherheit und Geborgenheit“ – so das tausendfach propagandistisch deklarierte Doppelziel des sozialistischen Staates, der nicht müde wurde, soziale Gleichheit zu betonen und zugleich soziale Phänomene wie „Armut“ und „Reichtum“ als für den Sozialismus „wesensfremd“ auszulagern und zu exterritorialisieren.

Unzweifelhaft zentral sind in den – nicht vollständig, aber doch kursorisch und nach verschiedenen Schlagworten eingesehenen[7] – Filmen gesellschaftliche Leitnarrative zu erkennen, die zunächst eine soziale Homogenisierung abbilden: Die Rolle der Arbeit in der „Arbeitsgesellschaft“ DDR (Martin Kohli) spiegelt sich unverkennbar in Aberdutzenden Filmminuten, ob bei Aufnahmen des Betriebsalltags oder in freizeitlicher Dimension, allen voran bei dem Verrichten handwerklicher Arbeiten in Wohnung, Haus und Garten. Der Faktor „Arbeit“ galt der Staats- und Parteiführung als fundamental bei der Herausbildung einer „sozialistischen Persönlichkeit“ und als „ehrenvolle Pflicht“, die vollkommen in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen war. Ungeachtet dessen deutet diese Bezeichnung, die in zahlreichen, durchaus sozial-harmonisierenden oder zumindest homogenisierenden Filmaufnahmen von „Arbeit“ implizit zu erkennen ist, ein zweifellos widerspruchsvolles Verhältnis aus offiziell propagiertem Egalitarismus und dem umfassenden, von der SED dominierten Kontroll- und Betreuungsapparat in einem autoritär geprägten, nicht zuletzt patriarchalisch agierenden Gemeinwesen.

Somit wundert es kaum, dass auch die außerhalb des Produktionsprozesses stehenden sozialen Gruppen, wie ältere, also nicht mehr berufstätige, oder Menschen mit Behinderung, in den (wenigen) Filmmitschnitten „tätig“ und folglich „produktiv“ erscheinen. Dies wird etwa deutlich bei einem ebenso faszinierenden wie seltenen Blick in ein Pflegeheim im Jahr 1966. Zu sehen sind allen voran ältere Frauen, die gesellig beisammensitzen und offenbar eine Feier veranstalten: Mobilität, Rüstigkeit, Unterhaltung in Gemeinschaft, gemeinsames Musizieren und Tanzen – all dies kontrastiert durchaus in bemerkenswerter Weise mit den prekären sozialen Lebenssituationen, die insbesondere bei einem Bezug von Mindest- bzw. Witwenrente auftauchen konnten. Während dieses strukturelle Defizit in der DDR-Sozial- und Rentenpolitik bis 1989 nicht überwunden werden konnte, stehen diese Aufnahmen für Rüstigkeit, Inklusion und würdevolles Altern.

Sequenz aus OMB Box 021 Rolle 04

Eine andere, vergleichbar ablaufende Veranstaltung in Ost-Berlin aus den 1960er und 1970er Jahren, eventuell ausgerichtet von der lokal zuständigen Gruppe der Volkssolidarität, fängt den lebhaft-munteren Tanz von Senioren ein, wobei auch hier das Zusammensein und -agieren verschiedener Generationen aufscheint.

Sequenz aus OMB Box 053 Rolle 20

Ähnliche Narrative der sozialen Eingebundenheit und produktiven Aktivität bis in ein fortgeschrittenes Lebensalter hinein sind für zahlreiche weitere Filmausschnitte festzustellen, die sich bei der Schlagwortsuche „Senioren“ bzw. „Greise“ ergeben: Ob ein in Langenwiesen bei Ilmenau im Jahr 1956 spazieren gehendes, gut gekleidetes älteres Paar, die einem anderen hochbetagten Mann mit Augenbinde begegnen (OMB Box 136 Rolle 01), ob gutgelaunt wirkende ältere Menschen in einem sächsischen Dorf in den 1960er Jahren, zunächst auf einer Bank sitzend, dann spazieren gehend (OMB Box 033 Rolle 03), ebenso an einem unbekannten Ort im selben Jahrzehnt (OMB Box 033 Rolle 10). Die Aufnahmen zu Goldenen Hochzeiten bestätigen diesen Eindruck, ungeachtet von Gehhilfen oder körperlichen Gebrechen (aber selbstverständlich gestützt von den Kindern bzw. Enkelkindern) in den 1960er Jahren (OMB Box 033 Rolle 13) oder 1962/63, als sich im Bezirk Rostock eine solche Festgesellschaft zu einem Familienporträt zusammenfand.

Sequenz aus OMB Box 057 Rolle 13

Kurz: Seniorinnen und Senioren als unbestrittener Teil der familialen und gesellschaftlichen Vergemeinschaftung, fernab etwaiger sozioökonomischer Missstände, sieht man einmal von Beschwerlichkeiten des Alltags, wie das Wäschewaschen im Badezuber ab (OMB Box 122 Rolle 36) – dieser Eindruck spiegelt sich reihenweise und gerade bei weiteren Aufnahmen von familiären Feten, die Senior:innen als bestens inkludierte und umsorgte Familienmitglieder darstellt, wie bei einer Silberhochzeitsfeier in Eisenach in den 1960er Jahren (OMB Box 140 Rolle 03) oder ebenda und im selben Jahrzehnt eine zwar überaus gebrechlich wirkende und weitgehend zahnlose, aber lächelnde ältere Frau, ebenfalls bei einer Familienfeier (OMB Box 140 Rolle 09). Etwas wackelig auf den Beinen und mit zwei Gehhilfen ausgestattet, aber selbständig agierend bei der Gartenarbeit und ebenfalls beim Spaziergang abgebildet – so wird auch ein älterer Mann in den 1970er Jahren in Königstein aufgenommen.

Sequenz aus OMB Box 005 Rolle 02

Ältere Männer und Frauen erscheinen in den zitierten Ausschnitten als integraler Bestandteil der sozialistischen Normalität und keineswegs als sozial randständig oder isoliert. Dies überrascht vielleicht wenig, denn über die Wohnsituation, das monatlich verfügbare Einkommen oder die Unterstützungsfähigkeit bzw. -bereitschaft ihrer Familien erfahren wir in oder über die Aufnahmen nichts. Allerdings fällt doch auf, dass bei diesen stark auf Familiäres konzentrierten Privatfilmaufnahmen ebenso wie bei Familienfilmen im Ganzen „das gesellschaftspolitische Umfeld nur sehr vermittelt und eher am Rande vorkommt“.[8] Es ging also offenbar vielmehr um das Festhalten positiver Momente und sozial angemessener, „korrekter Bilder“ von Gemeinschaft und Einheit. Gleiches gilt für Menschen mit körperlichen (darauf deuten die Rollstühle) und möglicherweise auch geistigen Beeinträchtigungen aus Brandenburg bzw. Neubrandenburg, die explizit nur einmal auftauchen, und zwar im Rahmen eines Gedenkstättenbesuches in den 1980er Jahren.

Sequenz aus OMB Box 119 Rolle 05

„Asoziale“ oder andere Randgruppen allerdings lassen sich in weiteren Filmen wenig überraschend nicht finden – und auch soziale Ungleichheiten in Form ethnischer Differenzen sind erstaunlicherweise nicht auffindbar. Während nur an einer Stelle schwarze Männer mehr oder weniger durch das Bild huschen, und zwar in Anzug und Krawatte, offenbar – darauf deutet die umgehängte Kamera – als Touristen in Warnemünde (OMB Box 064 Rolle 05) oder an anderer Stelle eine schwarze Frau, die während eines Besuchs in Polen filmisch abgelichtet wurde (OMB Box 057 Rolle 03), fallen die Lebens- und Arbeitswelten von „Vertragsarbeitern“, die mit verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit konfrontiert gewesen waren, im wahrsten Sinne aus dem Bild: Weder bei Schlagworten „Betriebsfeier“ oder „Betriebsausflug“, noch bei sonstigen Aufnahmen aus dem üblichen Arbeitsalltag lassen sich zu dieser Gruppe visuelle Spuren finden. Ob diese bildliche Abwesenheit allerdings gleichzusetzen ist mit einer – nicht von der Hand zu weisenden – tendenziellen sozialen Exklusion im täglichen Miteinander samt rassistisch-postkolonialistischer Attitüde seitens der „Einheimischen“, ist fraglich.

Kaum ein Aspekt der DDR-Sozial- und Alltagsgeschichte kann so viel über soziale Differenzierung und Individualisierung verraten wie ein Blick auf die Wohnsituation. Die vergleichsweise vornehmen Wohnlagen – sanierte Altbauwohnungen, vor allem aber Einfamilien- und Doppelhäuser in bester Lage und Ausstattung, teils Villen aus der Gründerzeit – waren in der Regel nur einem erlesenen Kreis an Spitzenfunktionären, hochdekorierten Wissenschaftlern oder international bekannten Künstlern vorbehalten. Diese Motive tauchen allenfalls sporadisch in einzelnen Filmausschnitten zu Dresden, Ost-Berlin oder bisweilen unter dem Suchbegriff „Datsche“ auf. Das andere Ende des Wohnkomforts ist in den Aufnahmen der Sammlung zumindest ansatzweise zu erahnen: Konkret geht es um die teils verfallenen, zumindest modernisierungsbedürftig wirkenden, meist innerstädtischen Altbaugebiete, in denen sich – keineswegs überall in der DDR, aber doch in auffälliger Ausprägung in Städten wie Dresden, Erfurt, Halle, Jena, Leipzig oder Rostock – eine Gemengelage an (auch) subversiv bzw. abweichend denkenden und agierenden Menschen („Schwarzwohnen“), aus deren Kreis heraus sich nicht selten oppositionelle Gruppen entwickelten, und am gesellschaftlichen Rand zu verortenden Gruppen fand, wie ältere und weniger qualifizierte Menschen, vornehmlich un- und angelernte Arbeiter, kinderreiche Familien, Haftentlassene, als „asozial“ Stigmatisierte und andere. Die dort befindlichen Wohnungen wiesen gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten der DDR – und dies im Kontrast zu den Neubaugebieten am Rande der Städte – oftmals Mängel hinsichtlich ihres Zustandes und ihrer Ausstattung auf (Schimmel, Außentoilette bzw. eine solche auf „halber Treppe“, Warmwasser-/Energieversorgung).

Prominent zu erwähnen wäre der Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, der nicht zuletzt durch Daniela Dahns „Prenzlauer Berg-Tour“ (1987) ein literarisches Denkmal erhielt. Ein filmischer Ausschnitt aus dem Jahr 1962 von ebenda fängt graue Fassaden, triste Straßenzüge und marode Gehwege ein:

Sequenz aus OMB Box 054 Rolle 23

Eine andere Aufnahme aus einem Hinterhof heraus – zu sehen ist allerlei Dreck und, wenn man dies aus heutiger Sicht so interpretieren will: Verfall – stammt aus dem Jahr 1984 (OMB Box 147 Rolle 13). Ob die Zeitgenossen eine solche Kulisse jeweils als Indiz für soziale Ungleichheitsmuster wahrgenommen haben, eine solche möglichenfalls ironisiert („Ruinen schaffen ohne Waffen“) oder ein solches Wohnumfeld eher bewusst gewählt haben, muss freilich offen bleiben. Auf welche Weise Menschen in diesem – zumindest aus heutiger Sicht nicht sonderlich attraktiv erscheinendem Wohnmilieu – mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn agierten, darauf deuten die Aufnahmen eines Wohngebietstreffens in Leipzig aus den 1970er sowie 1980er Jahren

Sequenz aus OMB Box 127 Rolle 04. Vgl. prototypisch die Szene eines verfallenen Hauses auf demselben Film um 02:51:00

Die Wohn- und somit Lebenssituation bestimmte sich allerdings nicht nur nach dem konkreten Wohnobjekt, sondern ebenso durch die jeweils konkreten Umwelteinflüsse, die eine wichtige Rolle bei ihrer Beurteilung spielten: Schadstoffe und Emissionen, Rauch, Schmutz und Ruß – all dies taucht zumindest explizit nur selten auf. Die Städtenamen Bitterfeld, Borna, Espenhain begegnen zwar, aber nicht im vermuteten Kontext rauchender Schlote oder verschmutzter Gewässer. Allein bei einer Aufnahme aus Raguhn, einem Dorf unweit von Bitterfeld, Ende der 1950er Jahre sind etwas ausführlicher Industrieanlagen, rauchende Schlote, marode Wege, renovierungsbedürftige Infrastruktur und bröckelnde Fassaden abgebildet, die allerdings weniger explizit betont, sondern vielmehr beiläufig eingefangen wurden, was sich vermutlich durch eine gewisse „Normalisierung“ und der bloßen Abbildung des Alltäglichen erklären ließe.

Sequenz aus OMB Box 123 Rolle 03

Dass darüber hinaus das Wohnen auf dem Land bzw. im Dorf zwar durch weniger schädliche Umwelteinflüsse gekennzeichnet war, die die Menschen plagen konnten, dafür aber andere Formen von Ungleichheit existierten, vor allem aber infrastrukturelle Nachteile, war demnach auch in der DDR-Gesellschaft eine Tatsache. Der Umstand eines nicht nur markanten Süd-Nord-, sondern auch Stadt-Land-Gefälles, der auch von internen zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien thematisiert wurde, findet sich zahlreich unter dem Rubrum „Dorfansichten“, etwa aus den 1960er Jahren an einem unbekannten Ort, wobei diese Nachteile des Landes hier symptomatisch in Form einer nicht asphaltierten Straße zur Geltung kommen.

Sequenz aus OMB Box 033 Rolle 09

Das Dorf Gleina – gemeint ist vermutlich nicht das im heutigen Burgenlandkreis, sondern jenes in der Nähe von Bad Köstritz – wird gar in zwei Filmen sehr ausführlich geschildert; die Aufnahmen nehmen heruntergekommene Höfe, abblätternde Häuserfassaden und dem Verfall preisgegebene Dächer in den Blick – Umstände und Gegebenheiten, die von den Protagonist:innen, die hier keineswegs unglücklich wirken, möglicherweise aber auch als erlösende Stadtflucht und Refugium in der Provinz erlebt worden sein konnten. Auch hier fehlt uns einordnendes Kontextwissen (OMB Box 122 Rolle 28) und (OMB Box 122 Rolle 36).

Neben dem Wohnen sind soziale Differenzierungen und ihre zeitgenössische Wahrnehmung in der DDR-Gesellschaft außerdem durch das Konsumieren verschiedener Produkte ablesbar. Wer in den Genuss von bestimmten Auslandsreisen kommen durfte, ist eine Frage, die bereits auf einen ersten Differenzierungsmarker nicht unmittelbar monetärer Art deutet: Damit verbanden sich Freiheitsrechte in einem Land mit beschränkter Reisefreiheit, wobei hier insbesondere, aber nicht ausschließlich, die „Reisekader“ als Akteursgruppe in den Blick geraten. Gemeint sind dabei weniger die dutzendfach zu findenden Aufnahmen von Reisen nach Polen, in die ČSSR, nach Ungarn (und hier an den Balaton), Rumänien oder nach Bulgarien (und hier allen voran ans Schwarze Meer), die ebenfalls eine Ikonisierung eines glücklichen und „schönen Lebens“ übermitteln, sondern vielmehr solche in die Sowjetunion (OMB Box 066 Rolle 14; 1980er Jahre), nach Kuba, China, Weißrussland (sic!) oder gen „Afrika“ (OMB Box 048 Rolle 01; so das Schlagwort, gemeint sind vermutlich Angola, Mosambik oder Algerien). Aus welchen Gründen und mit welchen Erwartungshaltungen diese Fahrten und Flüge absolviert wurden, müsste im Einzelnen und für eine präzise Quellkritik noch genauer besehen werden. Die auf diese Weise zum Ausdruck gebrachte visuelle Distinktion durch den Akt des Reisens als soziale Praxis vermittelt nicht nur Faszinierendes, da „Fremdes“ bzw. „Exotisches“, das filmisch festgehalten wurde. Allen voran betrifft dies die Darstellung von Lebensmitteln, aber auch Modeaccessoires und anderes. Zum Ausdruck gebracht werden damit immer auch und zumindest implizit ganz unterschiedliche Formen sozialer Ungleichheit, und zwar im Kontrast zur DDR-Gesellschaft wie auch in absoluten Maßstäben, wenngleich auch hier offen bleiben muss, aus welchen Gründen diese Eindrücke überhaupt festgehalten worden sind. Recht eindeutig scheint der Fall bei Sinti und Roma in der ČSSR 1966/67, die in durchaus voyeuristischer Manier sogar bettelnd gefilmt wurden

Sequenz aus OMB Box 081 Rolle 04

Zu diesen Reisen gehörten auch solche zum unmittelbaren „Klassenfeind“, der Bundesrepublik, die zunehmend ermöglicht wurden und ebenfalls Muster sozialer Ungleichheit transportieren. Unter dem Schlagwort „BRD“ finden sich prall gefüllte Schaufenster, die wohl kaum nur zufällig, sondern gewissermaßen als Beweismaterial für die Daheimgebliebenen sowie die Nachwelt aufgenommen wurden und durchaus Widersprüchliches spiegelten – dazu passt dann auch das ironisch aufgegriffene Hinweisschild „nur eine kleine Auswahl“ samt gut bestückter Schmuckauslage, Uhren, Markennamen wie Quelle, Miele, Shell oder Salamander sowie volle Fußgängerzonen in Frankfurt, Zweibrücken oder Braunschweig.

Sequenz aus OMB Box 011 Rolle 06. Schaufenster-Szene

Das explizite und ausführliche Filmen der westlichen Markenwelt und von Ikonen der bundesdeutschen Konsumgesellschaft wertete die Zeigbarkeit des Filmmaterials im Sinne eines familiären Erinnerungsmediums vermutlich nicht unerheblich auf, denn sie vermittelten nicht weniger als die Wohlstandsverheißungen des „Klassenfeindes“ und konnten dadurch Sehnsüchte wecken oder bereits bestehende verstärken. In den Filmausschnitten von Menschen, die die Bundesrepublik bereisten und die vor allem aus den späten 1980er Jahren oder aus der Zeit nach dem Mauerfall stammten (hier mit einem Schwerpunkt auf Bayern), gehörten neben Fußgängerzonen, wie in Lübeck (OMB Box 059 Rolle 10), auch Anklänge an die USA, wie durch die Landesfahne oder die Nachbildung einer Freiheitsstatue im Zuge eines Besuchs in einem Vergnügungspark (OMB Box 128 Rolle 14); ferner finden sich immer wieder Werbetafeln, wie für Coca-Cola und diverse Biermarken (OMB Box 066 Rolle 10).

Dies verweist auf die damit verbundenen, zumindest implizit zum Ausdruck kommenden Konsummöglichkeiten sowie Attraktionen der westlichen Seite in der Systemkonkurrenz, aber immer auch auf verschiedene Sehnsuchtsorte auch der deutschen Romantik, die visuell schlichtweg Faszination artikulierten. Diese Reisen waren zumeist mit Familienbesuchen verknüpft – hiervon ausgehend wurden dann Abstecher an Rhein und Loreley (OMB Box 058 Rolle 27) vorgenommen, das Deutsche Eck in Koblenz (OMB Box 058 Rolle 32) bereist, eine Bootsfahrt auf der Donau (OMB Box 128 Rolle 09) oder ein Besuch in St. Pauli samt „Moulin Rouge“ und „Große Freiheit“ unternommen (OMB Box 123 Rolle 01) und (OMB Box 078 Rolle 08).

Umgekehrt war es schließlich auch der Westbesuch, der bei nicht wenigen DDR-Bürger:innen durchaus Bewunderung, wenn nicht gar Neid aufkommen lassen konnte, weil dieser in materieller Hinsicht Formen sozialer Ungleichheit im deutsch-deutschen Vergleich bestätigte und somit propagandistische Wunschformeln Lügen strafte: Ein älteres Paar aus der Bundesrepublik etwa, dem Kennzeichen ihres Fahrzeuges nach zu urteilen in Gummersbach wohnhaft, das 1983 die DDR bereiste, zog nicht zuletzt wegen seiner PKW-Marke (Audi) die Blicke der ostdeutschen Verwandtschaft und eine knappe Minute Filmmaterial auf sich, das Wegfahren inklusive

Sequenz aus OMB Box 118 Rolle 05

Boten auch bestimmte Autos aus DDR- oder osteuropäischer Produktion, wie Wartburg oder Lada, eine Möglichkeit, soziale Differenzierung zu markieren, spielten insbesondere („West“-)Autos eine immens wichtige Rolle als wirkmächtiges Sinnbild und Gradmesser für soziale Unterschiede: Die Westverwandtschaft aus Dieburg kam in den 1980er Jahren nach Zinnowitz, wo diese nicht nur einen Pullover mit der Aufschrift „New York“, sondern allen voran ein Mercedes-Modell stolz den Brüdern und Schwestern im Osten präsentierten (OMB Box 049 Rolle 08). Und bei einem Besuch eines Filmenden in Polen im Jahr 1966 werden recht ausführlich und auffällig Luxusmodelle der Marken Mercedes-Benz und Jaguar aufgenommen, die dadurch als Protagonisten der Szene erscheinen.[9]

Sequenz aus OMB Box 057 Rolle 03

Dies war eine dezidierte Akzentuierung sozialer Differenzierung, und zwar in Form bestimmter (westlicher) Luxus- und Statussymbole, die dem Publikum wohl kaum ausführlich erklärt werden mussten.[10]

Neben Reiseerlebnissen und dort festgehaltenen Eindrücken waren verschiedene Konsumartikel eine weitere und prägende Ausdrucksmöglichkeit sozialer Differenzierung. Dies ist gleichsam visueller Beleg für „feine Unterschiede“ bei der Milieudifferenzierung, die beispielsweise subtiler erfolgen konnte, wie durch das Filmen (und vermutlich auch bewusste Platzieren bestimmter, da nicht nur hochprozentiger, sondern auch rarer hochwertiger) alkoholischer Getränke. – so bietet das Schlagwort „Alkohol“ zigfache Ergebnisse und spiegelt auf diese Weise eindrücklich ein verbreitetes Laster der DDR-Gesellschaft. Ähnliches ließe sich für das Konsumieren unterschiedlicher Zigarettenmarken festhalten, zumeist im Rahmen von Familienfeiern, bei Aufnahmen von Diskotheken bzw. Jugendclubs. Hinzu kommen detailliert dokumentierte Ausstattungen von Festtafeln, Büffets, aber auch Bücherregalen. Bisweilen erfolgt die Inszenierung bestimmter Konsumgüter auch direkter und aufdringlicher, wie bei den vielzitierten Orangen und Bananen, die gleich mehrfach prominent in Szene gesetzt wurden. Dadurch erfuhren diese eine besondere Aufwertung, zumeist in Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest, jeweils sorgfältig betrachtet, inszeniert, sodann zum Verzehr vorbereitet.

Sequenz aus OMB Box 104 Rolle 08
Sequenz aus OMB Box 108 Rolle 14

Gleiches gilt für das Öffnen und Bestaunen von „Westpaketen“ – ein Bezug dieser ganz besonderen Post aus der „alten“ Bundesrepublik war eine weitere, wenngleich eher „weiche“ Ungleichheitsdimension, weil sie Zugang zu ansonsten unerreichbaren Konsumprodukten ermöglichte. Zumeist wurden diese zum Weihnachtsfest versandt, worauf eine Aufnahme aus Dolgenbrodt südöstlich von Berlin aus den 1960er Jahren (OMB Box 104 Rolle 08) ebenso deutet wie der Film aus einem nicht genannten Ort 1971/72 (OMB Box 071 Rolle 10). Inwiefern das Auspacken regelrecht zelebriert wurde und staunende wie ungeduldige Kinderaugen gleichermaßen hervorrief, belegt eine Szene aus Halle aus den 1970er/1980er Jahren: Haribo, Schokoküsse, Milky Way, Lübecker Edelmarzipan und anderes wird triumphal in die Kamera gehalten, Gerüche und Geschmäcker ausgekostet und die damit verbundenen Sehnsüchte genossen, ehe die Produkte im Anschluss ebenso feierlich wie demütig verzehrt werden.

Sequenz aus OMB Box 122 Rolle 20

Neben den Westpaketen waren es folglich insbesondere verschiedene Produkte aus „dem Westen“, die begehrt waren. Der Zugang zur westlichen Markenwelt kann als weiteres Distinktionsmittel interpretiert werden, weil dadurch neue Differenzierungen zum Ausdruck gebracht werden konnten: Kaffee und Gebäck, wie beim Weihnachtsfest im erzgebirgischen Flöha und Olbernhau (OMB Box 034 Rolle 01; bes. 11:26), Toblerone, Nutella, Eduscho und andere prominente Marken des Westens zu einer Einschulung der 1980er Jahre (OMB Box 097 Rolle 11) oder die ganze Palette aus Obst, Dosen-Cola und -Fanta, Biersorten unterschiedlicher Couleur und Barbie-Puppen aus den Jahren 1989/90 – eine Aufnahme, die bereits in die marktwirtschaftlichen Strukturen des Postsozialismus weist.

Sequenz aus OMB Box 105 Rolle 17

Generell, so ließe sich das Thema für den Moment resümieren – indes kaum abschließen! –, neigen private Filmaufnahmen, in der DDR und gewiss auch in anderen zeitlichen und gesellschaftlichen Strukturen, eher dazu, die schöneren Seiten des privaten Lebens festzuhalten, wodurch die glücklichen familiären Momente im Mittelpunkt standen. (Vermeintlich) Randständiges, Abwegiges, Abweichendes, Unkorrektes und Unangemessenes – dies und weiteres bildete markante „blinde Flecken“ in den analysierten Filmen und hatte keinen unmittelbaren Platz in den wertvollen Filmressourcen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Das Filmen an sich und der Besitz eines Schmalfilmgerätes, wenngleich diese während der 1960er Jahre immer preiswerter zur Verfügung standen,[11] stellte bereits ein erstes Kennzeichnen sozialer Ungleichheit dar; dies war ein durchaus kostspieliges Hobby, das nicht jedem und jeder vorbehalten war.

Somit kamen diese Repräsentation des sozialistischen Alltags und von familiärer oder betrieblicher Privatheit weitgehend ohne „Unalltägliches“, Unerwartetes, Unpassendes (oder als unpassend Erscheinendes) aus: Dezidiert sozialkritische Aufnahmen sind jenseits des geprüften Bestands eher selten und allenfalls, wenngleich wiederum nur vereinzelt, zwischen den „visuellen Zeilen“, beiläufig, oftmals vermutlich eher unbeabsichtigt zu finden. Dass dabei – gewollt oder nicht, ist ohne zusätzliche Informationen über die Filmschaffenden so gut wie unmöglich zu rekonstruieren – gängige harmonisierende, affirmativ-glättende Sozialnarrative der Staats- und Parteiführung hinsichtlich einer planwirtschaftlichen Utopie und gesellschaftlichen Egalität reproduziert und unliebsame gesellschaftliche Erscheinungen tendenziell ausgeblendet wurden, erklärt sich folglich aus begrenzten zeitlichen, aber auch aus monetären wie interpretatorischen Kapazitäten des/der Einzelnen, gemünzt hier auf eine Art Ambiguitätstoleranz: Wie viel Widerspruch verkraften die Filmenden, aber auch die künftigen Betrachter:innen?

Auch das „normale“ Soziale, das Alltägliche in einer Diktatur und somit prima vista wenig Spektakuläre jenseits von Ausflügen, Feierlichkeiten und sonstigen Höhepunkten im Jahresverlauf einzufangen, schien für Viele kaum lohnenswert, weshalb sich die Filme vor allem auf eben jene besonderen Momente fokussierten. Somit erscheint es zwar durchaus vielversprechend, aber auch sehr aufwändig, die Filme systematisch nach den genannten Aspekten zu durchleuchten, wodurch die Möglichkeiten und Grenzen der Sammlung und ihrer künftigen Verwendung für (zeit-)historische sowie medien- bzw. kulturwissenschaftliche Fragestellungen wenigstens grob umrissen sind.

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