Die DDR im Schmalfilm Bild

Familiäre Stadtbilder. Zwischen Hintergrundrauschen und Postkartenmotiven

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Familiäre Stadtbilder. Zwischen Hintergrundrauschen und Postkartenmotiven

von Anja Tack

18. Januar 2023

Bilder sind zweifellos an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt und spiegeln diese bruchstückhaft wider. Was verraten die privaten Schmalfilme der Open Memory Box (OMB) über das Leben in der DDR?

Welche Stadtbilder scheinen in den Aufnahmen auf? Welche Vorstellungen von Stadtgesellschaft und urbanem Zusammenleben werden sichtbar, welche Bilder und Ansichten wurden bewusst in Szene gesetzt, welche nur als zufällige Filmkulisse mitgefilmt und welche „erlernten“ Vor-Bilder wurden filmisch nachgestellt?

Wer die Stadt in den Schmalfilmen der Open Memory Box (OMB) sucht, erhält zahlreiche Treffer, von denen nicht wenige Kinderwagen zeigen. Allein das Schlagwort „Kinderwagen“ liefert beachtliche 318 Filmsequenzen, und man könnte vermuten, dass es in der DDR mehr dieser rollenden Gefährte als heutzutage gab. Gewiss ist dieses Phänomen erklärbar, wenn man den kulturellen Wandel bedenkt, mit dem das körpernahe Tragen der Kleinen in Tüchern und anderen Tragehilfen das herkömmliche Schieben der Kinder mehr und mehr ablöste.

Die DDR im Schmalfilm Bild - Stadtansichten

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum in den Filmen so viele Kinderwagen durchs Bild geschoben werden. Die in der OMB zusammengetragenen Schmalfilme aus der DDR, so die verantwortlichen Sammler, seien von knapp 150 Familien zur Verfügung gestellt worden.[1] Die vielen Kinderwagenszenerien ergänzt um zahlreiche Einschulungsbilder (92 Treffer) und spielende Kinder (500 Treffer) scheinen diese Provenienz zu bestätigen und gleichzeitig darauf zu verweisen, dass das private Filmen eine Praxis zur Her- und Darstellung von Familie ist.[2] Zwar bemühte sich die Werbung, auch den Frauen und Müttern das Filmen mit einer Kamera schmackhaft zu machen,[3] doch lässt sich konstatieren, dass das Schmalfilm-Hobby vor allem junge Familienväter beglückte.[4] Worauf diese männliche Dominanz zurückzuführen ist, ob es an einer eventuell höheren technischen Affinität liegt, an der Reproduktion von Rollenbildern oder an finanziellen Aspekten, ist nicht verifizierbar.

Leider werden, wie an anderer Stelle bereits angemerkt wurde,[5] keinerlei Informationen zu den Filmenden und Gefilmten, zu den 2000 eingereichten 8-mm-Filmen in der OMB angeboten. Die Auswertung des filmischen Quellenbestandes wird erschwert, da elementare Angaben zum jeweiligen Entstehungskontext fehlen. Es ist nicht überliefert, wer mit welcher Intention und aus welchem Anlass den Kamerablick lenkte, wann und wie oft die Filme welchem Publikum gezeigt wurden, seit wann und wie regelmäßig gefilmt wurde etc. Allein anhand der Box-Nummer lassen sich sporadisch und bruchstückhaft Hintergründe der Filmenden rekonstruieren, ist doch jede dieser Nummern ein und derselben Provenienz des Filmmaterials, d.h. in der Regel einer Familie zugeordnet. Warum eigentlich sind nur Familien gebeten worden, Material einzureichen? Welches Familienbild lag der Auswahl zu Grunde?

Für das Nachdenken darüber, inwiefern private bzw. genuin familiäre Filme aus der DDR zur Gesellschaftsgeschichte des SED-Regimes beitragen könnten, sind Angaben zur Herkunft des Materials nicht ganz irrelevant. Denn unter diesen Umständen kann das folgende nur als ein spezifischer Familienblick, wenn nicht sogar als ein spezifischer Familienvaterblick gedeutet werden.

Die folgenden Ausführungen beruhen – unter den vorgenannten Einschränkungen – auf einer Auswertung des OMB-Quellenmaterials hinsichtlich der Frage, welche Stadtbilder in den privaten Filmen aufscheinen. Der Begriff des Stadtbildes ist zwar schillernd und vielversprechend, stiftet aber nicht minder Verwirrung, da mit ihm nicht mehr, aber auch nicht weniger als drei Sichtweisen auf die Stadt gemeint sein können.[6] Zu diesen zählt erstens das grafische, also das gemalte, gezeichnete oder fotografierte Bild einer Stadt, das medial über Publikationen, Ausstellungen, Postkarten oder zunehmend über die digitalen Werbe- und Kommunikationsplattformen transportiert wird.

Neben diesem medial vermittelten visuellen Aspekt kann der Begriff des Stadtbildes zweitens ebenso die gebaute Stadt, den gebauten städtischen Raum meinen, in dem die Fassaden sowie ihre Anordnungen im räumlichen Gefüge mit Plätzen, Straßen und Baukörpern ein Bild von einer Stadt ergeben. Während die zirkulierenden grafischen Bilder das Produkt eines Künstlers/einer Künstlerin oder einer Fotografin/eines Fotografen und damit eine Momentaufnahme in der Vergangenheit sind, ist die Wahrnehmung des städtischen Raumes als Stadtbild eine Momentaufnahme der Gegenwart, die nicht reproduziert werden kann und damit einzigartig bleibt.

Zu guter Letzt meint der Begriff des Stadtbildes eine abstrakte Vorstellung von Stadt. Im übertragenen Sinne fokussiert diese Begriffsebene auf die Stadt als Trägerin sozialer, politischer und kultureller Ideen, als Repräsentantin individueller und kollektiver Aneignungen des städtischen Raumes zur Manifestation bestimmter Interessen.[7] Gemeinhin wird in diesem Fall der mentalen Stadtbilder von Images gesprochen.[8] Letztlich, und damit lassen sich alle drei Ebenen wiederum zusammenführen, verändert die Aneignung des urbanen Raumes das gebaute Stadtbild und schlägt sich in den medial verbreiteten städtischen Ansichten nieder. Verkürzt gesagt: Aus Image wird Postkarte.

Zu fragen wäre, welche Idee, welche Vorstellungen von Stadtgesellschaft und urbanem Zusammenleben im Filmmaterial sichtbar werden, welche Bilder und Ansichten bewusst in Szene gesetzt, welche nur als zufällige Filmkulisse mitgefilmt und welche „erlernten“ Vor-Bilder filmisch nachgestellt wurden. Nicht minder ist auch zu fragen, inwiefern das medial verbreitete Bild auf die Image-Produktion zurückwirkt. Können Postkartenansichten die Vorlage für ein Image liefern? Bilder sind ohne Zweifel gleichsam an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt. Für den vorliegenden Artikel führt diese Fragestellung zu weit, daher sei hier auf ein Forschungsprojekt verwiesen, in dem die ideen- und sinnstiftenden diskursiven Einflüsse visueller Quellen auf Stadt und ihr Image untersucht werden.[9]

Die vorliegende Analyse erfolgt aufgrund des schieren Umfanges des Materials punktuell und randomisiert und versteht sich als ein erstes Diskussionsangebot zur Auswertung der OMB-Filme hinsichtlich des genannten Stadtbild-Themas. Mit den vom OMB-Team vergebenen Schlagworten konnte eine Schneise in das Dickicht des Materials geschlagen werden, um Filme bzw. Filmausschnitte zum Thema Stadt bzw. Stadtbild herauszufiltern.

Auffällig ist, dass die Sequenzen kurz sind, wobei die raschen Bildabfolgen bzw. Schnitte wohl einem finanziellen Aspekt geschuldet waren. Filme und Technik waren äußerst kostspielig.[10] Jede einzelne Szene kostete Geld, einen langminütigen verweilenden Blick musste man sich leisten wollen bzw. können. Zu berücksichtigen wären in der Analyse des Filmmaterials nicht weniger diese finanziellen Aspekte, die zu der Frage führen, inwiefern Schmalfilme als Quellen der Sozial- bzw. Milieugeschichte der DDR zu nutzen sind.

Die Stadt-Sequenzen machen schnell deutlich, dass es nicht nur eine DDR-Geschichte ist, die über die Filme erschlossen werden kann, sondern osteuropäische Stadträume gleichermaßen vor die Linse kommen.[11] Dies deutet wiederum darauf hin, dass das Filmen vor allem ein Hobby war, das den Urlaub und weniger den Alltag begleitete.[12] Die Stadtansichten in der OMB sind – das lässt sich als Zwischenfazit festhalten – vor allem Filme von jungen Familienvätern auf Urlaubsreisen sowie in anderen außeralltäglichen Situationen wie dem Sonntagsspaziergang, der Einschulung oder dem Ankommen in einem neuen Lebensabschnitt.

Das Instrumentarium der Suche, das die OMB anbietet, dient einem ersten Annäherungsversuch an das Material und liefert erste analytische Hilfestellungen; es bedarf jedoch einer weiteren Nachschärfung. Nicht zu empfehlen ist es beispielsweise, die Stichwortsuche durch einen zeitlichen Rahmen einzugrenzen. Hierdurch gehen sehr viele thematische Treffer verloren, was vermutlich daran liegt, dass das meiste Material nicht datiert wurde bzw. nicht datiert werden kann.

Weiter muss hier einschränkend erwähnt werden, dass die Schlagwort-Suche „Stadt“ kleinste Bruchstücke, kurze Sequenzen übersieht, in denen städtischer Raum nur für Sekunden sichtbar wird. Damit gehen vor allem jene städtischen Ansichten verloren, die nur im Hintergrund zu sehen sind und wie ein Hintergrundrauschen die filmische Leinwand zwar grundieren, aber keinerlei Beachtung, weder durch die Filmenden noch durch die Sammelnden, erfuhren. Ein Beispiel, dass es sich immer auch lohnt, rechts und links neben der Stichwortsuche zu schauen, ist der Film 108-19, der Berliner Aufnahmen zeigt, die jedoch nicht über die Suche nach „Stadt“ gelistet werden

Sequenz aus OMB Box 108 Rolle 19

Ein anderes illustratives Beispiel ist die Sequenz (OMB Box 079 Rolle 03) die mit dem Schlagwort „Trabant“ versehen wurde. Sie wird ebenfalls unter dem Stichwort „Stadt“ nicht gelistet. Das Standbild zeigt auch tatsächlich einen Trabant.

Standbild mit Trabant
Standbild 079-03, 11:51:06

Die eigentliche Szene beginnt jedoch bereits früher (11:21), als ein junger Mann aus dem Eingang eines Plattenbaus kommt. Ihm folgen drei Frauen, die auf die Kamera zugehen. Danach schwenkt die Kamera nach rechts und zeigt das Wohnviertel. Die moderne Stadt im Kleinen kommt zum Vorschein, in der der verschlagwortete Trabant keine Haupt-, sondern nur eine marginale Rolle spielt. Stattdessen kommen die uniformierten Bauten in den Blick, die wie die Gehwege, Blumenrabatte, Parkplatzbuchten und Straßen schnurgerade angeordnet sind.

Sequenz aus OMB Box 079 Rolle 03. Der Schwenk über das Wohnviertel

Alles ist gleichsam und gleichzeitig einsehbar, kein Winkel, keine Gasse, keine Fassade, die der Regelhaftigkeit etwas entgegensetzen könnten. Unweigerlich rufen die Bilder den expressiven und herausfordernden Ausspruch des streithaften und nicht weniger umstrittenen Pioniers der Moderne Le Corbusier in Erinnerung, der auf besonders abfällige Art und Weise davon sprach, dass doch nur Esel die krummen Wege und Gassen mögen, der moderne Mensch hingegen nach der Gerade strebe.[13] Der Entwurf einer modernen, funktionalen Stadt glich einer brutalen Utopie, die auf Kosten der alten, gewachsenen Strukturen und auf Kosten der menschlichen Bedürfnisse errichtet werden sollte. Eine Idee, die das Ansinnen der Rationalisierung von Mensch und seiner Umgebung verfolgte und nicht allein von Corbusier ersonnen worden ist.[14]

Warum diejenigen, die das Filmmaterial systematisch organisierten, die Filmsequenz nicht mit dem Schlagwort „Stadt“ versehen haben, kann nicht verifiziert werden. Das Vorwissen und die Erfahrungen der Bearbeiter:innen der OMB-Suche müssen, und das zeigt das Beispiel, analytisch eingepreist werden, denn das Suchergebnis reflektiert letztlich ihre Vorstellungen von Stadt und Stadtbild. Im Falle des genannten Beispiels könnte davon ausgegangen werden, dass der Trabant höher gewichtet wurde als die Neubau-Szenerie bzw. dass die Siedlung nicht als bemerkenswert beurteilt wurde, der Trabi jedoch als ikonischer Alleinstellungswert einer DDR-Kultur identifiziert worden ist.[15]

Liegt es daran, dass die monotonen Stadtlandschaften der Neubau-Siedlungen aus heutiger Perspektive langweilig, nüchtern, trist wirken, sie nicht der Rede wert sind? Oder ist das Urteil auch einer gegenwärtigen Abneigung einer im Sinne von Le Corbusier gewaltsam geschaffenen Struktur und Ordnung einer idealisierten und technisierten Stadt geschuldet, die sich nicht um die Bedürfnisse der Menschen schert, wohl aber eben jenen Menschen in neuer Form hervorzubringen gedachte?

Eine bemerkenswert hohe Frequenz der Neubausiedlungen im OMB-Filmmaterial unterstreicht die Relevanz des Wohnungsneubaus für die Menschen in der DDR, vor allem für junge Familien, für die der Einzug in eine Drei- oder Vier-Raum-Wohnung ein Stück Freiraum und oftmals die Loslösung vom Elternhaus bedeuten konnte. Ob implizit oder explizit, ob im Hintergrund oder als vordergründige Inszenierung, die Neubauten sind ein oft wiederkehrendes Genre in den Schmalfilm-Aufnahmen.

Filmen und Fotografieren sind insbesondere für neue Lebensabschnitte wichtige Formen der Aneignung und Begleitung, mit denen visuell gestützte Erinnerungsquellen angefertigt werden.[16] Der Filmende der Box 55 setzt beispielsweise sein neues Heim feierlich in Szene, zoomt die Fassade seines neuen Wohnblockes; er fokussiert nacheinander den Eingang mit Nummernschild und Klingelboard, die Fassade und letztlich eines der Fenster, das mutmaßlich zur eigenen Wohnung gehört und diese damit von außen sichtbar macht.

Sequenz aus OMB Box 055 Rolle 12

Das eigene Heim wird als Errungenschaft, als Statussymbol für die Ankunft im Alltag, für Emanzipation und Erwachsensein, als Sinnbild von familiärer Eintracht und kleinem privaten Glück zelebriert. Der Filmende bemächtigt sich mithilfe der memorierenden Technik der neuen Wohnräume samt dem sozialen Umfeld, das aufgeräumt, geordnet und gestaltet wird – individuell und gemeinschaftlich. Aus dem Fenster heraus verfolgt er das Geschehen im Eingangsbereich des Hauses. Beete werden angelegt, Bäume und Sträucher gepflanzt, um Ordnung zu schaffen und den neuen Lebensabschnitt zu kennzeichnen. Der kleine Raum zwischen Haustür und Straße ist Übergang vom urbanen Außenraum zum individuellen Innenraum der Wohnung, er ist ein symbolisches Scharnier zwischen Außen und Innenwelt, zwischen den Anderen und dem Eigenen. Die gemeinsame Gestaltung des Zwischenraumes kann nicht nur Sinn, sondern auch Zugehörigkeit stiften.[17] Der Soziologe Steffen Mau unterstreicht, dass von einer „wirklichen“ Aneignung des Sozialraumes nicht gesprochen werden könne, da es Aktivitäten, die über die Gestaltung des öffentlichen Raumes hinausreichten, nicht gegeben habe, vielmehr der Außenraum „den Charakter eines offiziellen und kontrollierten Bereiches behielt“.[18] Folgt man dieser Einschätzung, ließe sich das Filmen des Bereiches vor dem Haus, der Grünanlagen und des Gehsteigs sowie der Straße mit ihren Parkbuchten als ersatzweise Bemächtigung dieses Raumes darstellen, die allein durch das Filmen möglich scheint.

In den über das gesamte Land verteilten Neubausiedlungen[19] konnte sich der Traum vom kleinen privaten Familienglück und das politische Versprechen des sozialen Aufstiegs auf eine ideale Weise vereinen.[20] Den Schlüssel zu den eigenen vier Wänden übergab das Regime als Ankunftsgeschenk im sozialistischen Alltag.[21] Ausreichend Wohnraum zu schaffen, um die Bedürfnisse der Menschen nach Komfort und modernem Wohnstandard zu befriedigen, galt als unumstößliche sozialpolitische Prämisse, nicht zuletzt um politische Zustimmung zu generieren und den parteipolitischen Machterhalt zu sichern.[22]

Doch im Gegensatz zu den durch ihre zeitgenössischen Nutzer:innen überwiegend positiv bewerteten Neubauten[23] ist die „Platte des Ostens“ retrospektiv zum Inbegriff des monotonen und nüchtern praktikablen Bauens in der DDR, zum Symbol des angepassten Lebens eines entindividualisierten Kollektivs geworden.[24] Ganz davon abgesehen, dass die „Platte des Westens“ nicht minder für Fortschritt und Wohnkomfort stand,[25] haftet den Neubausiedlungen der DDR ein unstatthaftes Image an, gelten sie doch als affirmatives Produkt des SED-Regimes – und nichts könne das Scheitern des politischen und gesellschaftlichen Experiments besser darstellen als der weiträumige und unattraktive Leerstand der Wohnsiedlungen nach dem Ende der DDR.[26]

Ein Vermögen der in der OMB gesammelten Schmalfilme könnte darin bestehen, dass sie jene Lebenswirklichkeit in die Erinnerung an den Alltag in der DDR zurückholen können, die gegenwärtig zunehmend durch medial vermittelte Bilder und Vorstellungen gespeist wird und weniger durch den unmittelbar erlebten Alltag. Die Filmbilder können die nach mehr als dreißig Jahren Transformation eingeübten Erinnerungsbilder an die DDR produktiv irritieren oder gar korrigieren. Doch braucht diese Korrektiv-Funktion ein Übersetzungsangebot, das die fehlenden Backgroundinformationen ergänzt.

Die heutige Sicht auf die DDR ist durch die Fotografie der 1970er und 1980er geprägt, durch die schwarz-weiße Autor:innen-Fotografie, durch einen spezifisch künstlerisch-distanzierten Blick auf Alltag und Gesellschaft. In der retrospektiv visuellen Konstruktion der DDR scheint diese dadurch nicht nur grau und monoton, sondern gleichfalls „für immer schwarz-weiß“.[27]

Ausstellungen mit Fotografie aus der DDR haben diese Wahrnehmung mitgeformt, nicht minder auch Publikationen, Kinofilme, Fernsehserien und vieles mehr. Dabei formulierte beispielsweise Ulrich Domröse, der Kurator der vielbeachteten Fotografie-Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1945-1989“, die 2013 in der Berlinischen Galerie gezeigt wurde,[28] seinen Anspruch, dass die „Werke […] nicht nur als Quellen genutzt werden für die ewige Frage nach dem Alltag in der DDR, sondern nach ihrem künstlerischen Eigenwert beurteilt werden“ sollten.[29]

Mit ihrer erzielten Reichweite, die den Berliner Raum weit überstieg, wurde die Schau zu einem wichtigen diskursiven Katalysator des DDR-Bildgedächtnisses. Auch wenn die Ausstellungsmacher die Fotografien als Kunst verstanden wissen wollten, wurden sie doch „ungefragt“ und „unautorisiert“ in der öffentlichen Wahrnehmung zu ikonischen Puzzleteilen des DDR-Alltages. Im Ergebnis, so die Historikerin Annette Schuhmann, würde es die sogenannte Autorinnenfotografie mit ihren „immer ein wenig grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern [...] vermögen, die Ambivalenzen des staatssozialistischen Alltags“ einzufangen, zumindest in der retrospektiven Wahrnehmung und Suche danach, wie er denn aussah und sich anfühlte, der Alltag in der DDR.[30] Doch der Blick der Künstler:innen und Fotograf:innen ist wählerisch und zuspitzend, die Fotografien sind Momentaufnahmen, die dem Alltäglichen einen Zerrspiegel vorhalten, um auf gesellschaftliche Zustände, auf Missverhältnisse zu zeigen.

Für die Thematik der Stadtbilder ist vor allem der Berliner Fotograf Ulrich Wüst als ein Protagonist der künstlerischen Fotografie zu nennen.[31] Wüst gestaltete seine Stadtbilder stets menschenleer, um auf die „karge Schönheit“, die „in diesen Bildern [...] versteckt“ sei, aufmerksam zu machen.[32] Er wollte nicht von der Architektur und dem Stadtraum ablenken.[33] In seinen Fokus rückten so gestalterische, zeichnerische Elemente, die ihm der urbane Raum anbot. Mit reduziertem Licht und Schatten sowie harmonischen oder disharmonischen Kompositionen, die er den gleichförmig arrangierten und gestalteten Plattenbauten entnahm, wurde aus dem alltäglichen Lebensraum vieler Stadtbewohner:innen ein ästhetischer Widerschein, der den urbanen Lebensumständen mit Zuneigung und Anerkennung entgegenzutreten scheint.

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Ulrich Wüst, Berlin 1982 [34]

Während Ulrich Wüst in seinen Stadtbildern die menschlichen Figuren aus dem Bild „räumte“, treten diese als Freunde und Bekannte, als Familienmitglieder oder als Fremde in den privaten Filmaufnahmen der OMB als Protagonisten in der städtischen Kulisse auf und ergänzen die fotografischen Blicke und Darstellungen um weitere Bilder und Wahrnehmungen des Lebens in den Städten der DDR.

Fotografien zeigen einen zeitlichen Moment, als stünde die abgebildete Stadt still, doch Städte stehen nicht still. Filme hingegen sind fließende Bilder, mit denen sich die urbane Hektik, der rauschende Verkehr, die eilenden Passanten einfangen und abbilden lassen. Beim Nachdenken über das Filmmaterial jedoch entstehen unweigerlich Standbilder, die die filmische Bewegung anhalten. Das Herauslösen einzelner Bilder aus den Filmen erfolgt dabei auf Grundlage der visuellen Prägung der Verfasserin oder des Verfassers.

Wer beispielsweise die Gemälde des Berliner Malers Konrad Knebel zu seinem eigenen visuellen Repertoire zählt, schaut unweigerlich auf das OMB-Filmmaterial mit dieser einstudierten Brille. Wohl kaum ein anderer Maler hat seine Heimat, den Ost-Berliner Prenzlauer Berg, so umfangreich und auf eine liebevoll distanziert kritische Weise gemalt, wie der „Canaletto vom Prenzlauer Berg“, wie der heute über 90-jährige Knebel jüngst von Knut Elstermann in einer Biografie gewürdigt wurde.[35]

Der Filmende der Box 108 verabschiedet seinen Berlin-Besuch, der dabei ist, Konserven und frische Lebensmittel in seinem Kofferraum zu verstauen, Dinge des alltäglichen Bedarfs, die nur in der überdurchschnittlich gut versorgten Hauptstadt zu bekommen waren und in der sträflich behandelten heimatlichen Provinz fehlten. Die Kofferraumklappe wird geschlossen. Danach fallen sich Besuchende und Besuchte in die Arme, Hände werden geschüttelt, Kindern der Kopf getätschelt, man lächelt und winkt, bis die Gastfamilie im Auto sitzt und der gut gefüllte senfgelbe Skoda rückwärts aus der Parklücke stößt. Die Kamera filmt die Abfahrt des Wagens von hinten, die Straße hinunter, an parkenden Autos links und rechts am Straßenrand vorbei.

Sequenz aus OMB Box 108 Rolle 19

Ab Sekunde 8:55:13 scheint plötzlich Konrad Knebels Realismus auf. Die Einstellung ruft jene Bilder in Erinnerung, die der Berliner Künstler von seiner Heimat schuf. Zu sehen sind die typischen Berliner Mietskasernen aus der Jahrhundertwende graubraun verputzt, ohne Zier und Schmuck, abgenutzt und abgewohnt, der Asphalt der Straße löchrig und dreckig, die parkenden Autos in blassen Farben. Eine von den unzähligen Nebenstraßen Berlins jenseits des gestalteten und neu gebauten repräsentativen Zentrums.

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Konrad Knebel, Dunckerstraße [Berlin], 1986, Kunstarchiv Beeskow

Ost-Berlin fernab der Knebel’schen Alltagsrealität ist ein beliebtes touristisches Ziel. Die Schmalfilme der OMB stellen umfangreiches Bildmaterial von der „Hauptstadt der DDR“ zur Verfügung. Das mag an ihrer Bedeutung liegen und zugleich den außeralltäglichen Charakter der Filmaufnahmen unterstreichen, denn die Berliner Szenen zeigen vor allem Flaneure bei einem Ausflug durch die Stadt. Zu sehen ist vor allem das Zentrum der Stadt, zu dem seit Mitte der 1970er Jahre die architektonischen Attraktionen Fernsehturm und Palast der Republik gehörten.

Allein seine stattliche Höhe von 368 Metern macht den 1969 fertiggestellten Fernsehturm zur unübertrefflichen Attraktion und zum Wahrzeichen Ost-Berlins. Als bündele die Kugel all den Stolz der politischen Führung auf diese Höhendominante, an deren Ausmaß das andere halbe Berlin mit keinem Gebäude heranzureichen vermochte. Mit diesem Stolz mag auch der eine oder die andere Besucherin vor dem Turm staunend nach oben geblickt haben, nicht selten gepaart mit Neugier und Interesse an der bautechnischen Leistung.

Etliche Filmer:innen versuchten sich an diesem Gebäude, das sich aufgrund seiner Höhe einem einfachen Abfilmen widersetzte. Mehr oder weniger zwangsläufig ähneln sich die Aufnahmen, die den Turm langsam von unten nach oben abfahren, um am Ende die Spitze per Zoom heranzuholen. Das mag für den Filmenden interessanter gewesen sein als für den Betrachtenden, der außer dem schmalen Betonstreifen des Turmes nichts weiter im Bild entdecken kann.[36]

Beliebt ist auch der Perspektivwechsel, so man denn einen der begehrten Plätze im Restaurant des Fernsehturmes ergattern konnte. Dem Filmenden der Box 059 ist dies gelungen, er filmt die städtische Mitte von ihrem höchsten Punkt aus. Die Plattform des Fernsehturmes ist nicht nur eine bei Touristen beliebte Aussicht, sondern eröffnet eine neue Perspektive auf die Stadt, eben jene vom Geschehen am Boden entrückte Vogelperspektive, der sich auch Stadtplaner:innen und Architekt:innen im Planungsprozess bedienen.

Die Kamera fängt so eine Stadt wie am Reißbrett ein: Am Fuße des Turmes entfaltet sich ein Ring aus mehreren hohen Hausscheiben und sogenannten Punkthochhäusern, unterbrochen durch wuchtige breite Straßen. Am prestigereichsten Platz der „Hauptstadt der DDR“ ließ das SED-Regime seinen Machtanspruch regelrecht in den Boden stampfen. Wohin das Auge, wohin die Kameralinse reicht, es reiht sich Neubau an Neubau. Am Horizont, der aufgrund der schlechten Bildqualität in einer grauen Wolke verschwindet, lassen sich alte Stadtstrukturen, ältere Bausubstanz, eine Bebauung der Stadt aus einer anderen Zeit erahnen. Doch der Filmende fokussiert auf das Naheliegende im doppelten Sinne, auf den ins Auge fallenden bildfüllenden Umbau Ost-Berlins, direkt am Fuße des Fernsehturmes, inmitten des Stadtzentrums. Das Neue weckt Interesse, die Wucht des Überformens der alten Stadt, die symbolische Kraft der modernen Architektur lockt die Tourist:innen und bietet sich an als Filmprotagonistin. Sie ist mehr als bloße Kulisse, sie ist politisches Statement mit visueller Sogwirkung, der sich kaum zu entziehen ist, ganz im Sinne der Partei?

Ein Abgleich des Werbe- und Marketingmaterials Ost-Berlins mit den Schmalfilmsequenzen der OMB würde es nahe legen, die Filmaufnahmen vom repräsentativen Zentrum der DDR-Hauptstadt als Reproduktion der Propaganda einzuordnen, mit denen ein zustimmendes Plädoyer zu Staat und Partei-Regime abgelegt worden wäre. Gleichen die Bilder doch den Werbebroschüren und erinnern an bunten Hochglanz: ein zustimmendes Manifest zur Ost-Berliner Erfolgsgeschichte.

Zu recht stemmt sich Sebastian Thalheim gegen eine vorschnelle dichotome Aufteilung der privat filmenden DDR-Gesellschaft in jene, die den Staat affirmativ und jene, die ihn wiederum subversiv in Szene gesetzt hätten, ohne jedoch den politischen Anspruch der gesellschaftlichen Durchdringung negieren zu wollen, wohl aber darauf zu drängen, die widersprüchlichen Handlungen der Filmenden aufzeigen zu können.[37] Denn es ist im Falle der OMB-Filme nicht zu verifizieren, welcher Intention die Filmenden folgten noch wie diejenigen reagierten, die das Material zu sehen bekamen.

Wenn nach der Rückkehr von der Reise, zu Hause auf Leinwänden die Filme zu familiären Anlässen präsentiert wurden, reisten die Berlin-Bilder in die ferne Provinz. Was dann in den Wohnzimmern oder anderen Vorführräumen geschah, bleibt für das vorliegende Material im Ungewissen. Vorstellbar wäre, dass die Bilder Staunen auslösten. In diesem Falle könnte das gebaute Stadtbild in den privaten Aufnahmen auf indirekte, subtile Art und Weise Bildträger für politische Botschaften und Propaganda sein. Es sind auch andere Reaktionen vorstellbar. Eventuell nutzte der Filmende seine Bilder, um von seiner erfolgreichen Eroberung des Fernsehturmes und des stark nachgefragten und stets ausgebuchten „Telecafés“ zu berichten oder dafür, um auf die technischen Herausforderungen aufmerksam zu machen, die das Filmen des eintönigen Betonturms von dessen Fuße aus mit sich bringt. Möglich ist aber auch, dass das Material kein einziges Mal gezeigt wurde.[38]

Was das Filmmaterial jedoch bestätigt, ist die vom britischen Soziologen John Urry als tourist gaze (touristischer Blick) bezeichnete Vorprägung, mit der Touristen fremde Städte und Länder erkunden.[39] Das Film-Material wird unter dieser Prämisse zu Abbildern gelernter Vor-Bilder, indem sie Broschüren Ost-Berlins nachahmen, das Offensichtliche in Szene rücken, die markanten Orte und Gebäude filmen. Der Stadtbesuch ist vielfach ein Abschreiten der vorhandenen Bilder im Kopf, die mit der Realität abgeglichen werden. Stadtmarketing und Stadtpolitik bereiten touristische Pfade – und das sowohl zu DDR-Zeiten als auch heute.

Das überrascht weniger, als es doch eindrücklich belegt, wie der Blick auf Stadtbilder entstehen kann: Die touristische Wahrnehmung von Stadt ist vorgeprägt durch bildliches Material und sucht, wie es Urry beschreibt, das Außergewöhnliche, das Außeralltägliche. Auf dieser Suche richte sich der Blick des Touristen bevorzugt auf das Stadtbild, da sich dieses von der Alltagserfahrung abgrenze. Zudem werden Architektur und städtische Silhouette bevorzugt in Augenschein genommen, da der tourist gaze von „einer viel größeren Sensibilität für visuelle Elemente [...] und des Stadtbildes“ geprägt sei, „als dies im Alltag der Fall ist“.[40] Interessant wäre zu erfahren, wie die Filmenden ihre Präferenzen erklären würden und ob das mütterliche oder weibliche Filmen andere Bilder erzeugt hätte bzw. produzieren würde. Das Füllhorn des bildlichen Materials, das die OMB über die Forschenden ausschüttet, könnte seine Quellenqualität gewinnbringender ausspielen, wenn die fehlenden Angaben zu den Filmenden nachgerüstet werden und damit die Chance erhöht wird, eine verifizierbare Gesellschaftsgeschichte der DDR anhand dieses großartigen und dichten Schmalfilm-Materials anzugehen.

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